Autonome erklären dem Staat den Krieg, und akademische Milieus zeigen dafür erstaunlich viel Verständnis. Woher kommt das? Ein Blick in die Geschichte linker Gewalt.
Wenn es ein Lied gibt, das als Hymne zu den Ausschreitungen des G-20-Gipfel gepasst hätte, dann der Punkklassiker «Deutschland muss sterben» der Band Slime, die passenderweise auch aus Hamburg stammt: «Wo Faschisten und Multis das Land regieren, wo Leben und Umwelt keinen interessieren, wo alle Menschen ihr Ich verlieren, da kann eigentlich nur noch eins passieren – Deutschland muss sterben, damit wir leben können!» Die Schlusszeile wird mehrmals wiederholt.
In diesen Zeilen steckt aus linker Sicht alles drin: das Grosskapital, der von ihm angeblich begünstigte Faschismus, die kaputte Umwelt, der kaputte Mensch. Das gesammelte Elend des Kapitalismus. Wenn man am Berliner Otto-Suhr-Institut, kurz: «Osi», studierte, kam man mit diesem Text «Deutschland muss sterben» spätestens zur «Erstsemesterfahrt» ins niedersächsische Wendland in Kontakt. Tagsüber wurden die angehenden Politikwissenschafter über den gerechten Kampf der Anti-Atomkraft-Bewegung rund ums Endlager Gorleben aufgeklärt und lasen gemeinsam Adorno. Abends gab es Bier und antideutsche Hits.
Das allerdings spielte sich nicht in den späten 1960er Jahren ab, als weite Teile der akademischen Jugend «Ho, Ho, Ho Chi Minh!» skandierten. Das war Anfang dieses Jahrtausends, als deutsche Studenten längst als politikferne Hedonisten galten und das «Osi», diese einstige linke Kaderschmiede, schon im Ruf stand, eine postideologische Bildungseinrichtung zu sein. Von wegen.
Den Neuen wurde von Anfang an eingebimst, wo der Feind steht, vielleicht nicht mehr in jedem Seminar, aber spätestens in der Kaffeepause im «Roten Café». Dort wurden zwar keine Pflastersteine zerklopft, aber es wurde eine klare Linie gezogen: hier die Sehenden, dort draussen das kaputte und kaputtmachende System.
Am Ende des Studiums entschied sich nur eine kleine Minderheit für die Politik oder ein Leben als Aktivist. Die Mehrheit geht heute bürgerlichen Berufen nach. Begriffe wie «Markt» sind für die Absolventen immer noch negativ konnotiert, und dass der Staat private Vermögen umverteilen muss, versteht sich von selbst. Aber davon abgesehen haben sich die Leute arrangiert. Man ist nicht mehr links, man ist jetzt linksliberal. Das ist zwar ein Oxymoron, aber ein schönes. «Deutschland muss sterben», brüllt hier niemand mehr, nicht einmal ironisch.
Und trotzdem gibt es in diesen arrivierten linken Kreisen bis heute eine erstaunliche Bereitschaft, Gewalt zu rechtfertigen. Ein Beispiel, das so ähnlich seit den Ausschreitungen von Hamburg unzählige Male zu hören und zu lesen war: «Gewalt komplett abzulehnen, Pazifist zu sein, ist ein ehrenwerter – und einfacher – Standpunkt, den auch viele der Protestierenden in Hamburg vertreten haben. Aber wenn ich mich in einen jungen Autonomen hineinversetze, der sieht, wie die neoliberale Politik überall in der Welt die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher macht, und der dann aus Hilflosigkeit, Wut und Verzweiflung einen Stein oder einen Brandsatz wirft – dann bleibt da irgendwo ein kleines Restverständnis.»
Dieses Zitat stammt aus einem Interview der Schriftstellerin und Journalistin Barbara Sichtermann mit der «TAZ». Die Zeitung ist auch in diesen Tagen nach dem Gipfeldrama eines der spannendsten deutschen Blätter. Hier wird nicht nur täglich umfangreich über linke Gewalt geschrieben, hier schreiben die Linken selbst über die Gewalt.
Der Reiz der Lektüre besteht dabei weniger in der Originalität der Texte. Die «TAZ» demonstriert mit ihren Artikeln über die Ausschreitungen vielmehr, wo das Verständnis für die Steine werfenden Genossen herkommt. Es ist so, als sässe man mit der Redaktion am WG-Tisch.
Die wiederkehrenden Argumente lassen sich so zusammenfassen: Linke Gewalt reagiert nur auf die dem Kapitalismus innewohnende Gewalt (etwa in Form eines Wasserwerfers). Linke Gewalt wendet sich, wenn schon, dann gegen die Starken (autoritäre Regime, Grosskonzerne oder Faschisten). Linke Gewalttäter mögen fehlgeleitet sein, aber ihre Absicht ist dennoch in der Regel edel. Die Problematisierung linker Gewalt ist, wenn sie nicht von Linken vorgenommen wird, fast immer ein Versuch, von den Gefahren rechter Gewalt abzulenken.
All diese Punkte haben ihre Berechtigung, und man kann prima darüber streiten. Ganz anders die Wortmeldungen aus den linken Parteien. Mit Ralf Stegner, dem stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden, gesprochen: «Gewalt ist nicht links, sondern kriminell!» Den Unsinn musste er sich sogar von der «TAZ» um die Ohren hauen lassen.
Wie gross die ideologischen Schnittmengen der moderaten und extremen Linken sind, hat der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz erst Ende Juni auf dem Dortmunder Parteitag demonstriert, als er dazu aufrief, den «entfesselten Kräften des Kapitalismus» Einhalt zu gebieten: «Es sind die Kräfte, die die Umwelt zerstören. Sie spekulieren hemmungslos an den Börsen, zum Beispiel auf Nahrungsmittel, weil sie wissen, dass die Verknappung der Nahrung den Preis für die Nahrungsmittel in die Höhe treibt, was dazu führt, dass der Hunger der einen der Profit der anderen ist. Was für ein perverses System, dem man sich in den Weg stellen muss!» Pervers. Hemmungslos. Entfesselt. In den Weg stellen. Die Organisatoren der Hamburger «Welcome to Hell»-Demo haben ihre Motivation sehr ähnlich beschrieben.
Ein Begriff, der das linke Gewaltverständnis von Anfang an prägt, ist «strukturelle Gewalt». Damit ist der Kapitalismus als solcher gemeint. Am Beispiel der Autonomen: Die Gewalt geht nicht vom Steine werfenden Vermummten aus. Vielmehr ist die Welt, der sich dieser junge Revolutionär ausgesetzt sieht, selbst ein Gewaltakt, mit entfesselten multinationalen Konzernen und imperialistischen Staaten, die am Fliessband Kriege, Hungersnöte und Fluchtbewegungen auslösen. Der Übergriff gegen den nur indirekt verantwortlichen, aber die Verhältnisse stabilisierenden Polizeibeamten ist eine Konsequenz der Umstände. Notwehr.
Wolf-Dieter Narr, bis 2002 Professor für empirische Theorie der Politik am «Osi» und einst einer der einflussreichsten Köpfe der linksakademischen Berliner Szene, hat das 1981 so formuliert: «Der Gewaltprozess selbst, rechnet man nicht schon Häuserbesetzungen zur Gewalt, wird gewöhnlich polizeilich initiiert und inszeniert. Das Stück selbst wird mit politisch-bürokratischer Hand geschrieben.» Mit der Kausalität lässt sich natürlich jede persönliche Verantwortung ausschliessen – nicht nur von Linksextremisten.
Wie stark sich das Konzept der Gegengewalt durch die linke Geistesgeschichte zieht, hat der Hamburger Politikwissenschafter Wolfgang Kraushaar gerade in einem Essay mit dem Titel «Faszinosum Militanz» nachgezeichnet. Der Text erscheint Anfang August im Sammelband «Die blinden Flecken der RAF», dem publizistischen Auftakt zu 40 Jahren «Deutscher Herbst», jener rückblickend heikelsten Episode der Bonner Republik.
Kraushaar ist Jahrgang 1948, also Zeitgenosse jener Jahre, in denen die radikale bis revolutionäre Linke die Bundesrepublik in Atem hielt. Er gilt als versiertester Chronist dieser Zeit. In seinem Essay zeigt er, dass sich der linke Gewaltbegriff seit dem 19. Jahrhundert zwar gewandelt hat, aber im Kern gleich geblieben ist: Man begreift sich als linker Gewaltakteur nicht als Täter, sondern als Anwalt der Opfer, der den Kampf für die Leidtragenden des Systems aufnimmt.
Bei Marx, schreibt Kraushaar, sei die Gewalt noch «nichts anderes als der Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft», ein Mittel, um die klassenlose und damit gewaltfreie Gesellschaft zu schaffen. Anders Lenin. Für den wird die Gewalt zum festen Instrument der kommunistischen Kader – womit auch die Lunte für Stalins Lager gelegt ist. Bei Che Guevara geht es Mitte des 20. Jahrhunderts schliesslich darum, eine Gesellschaft, die noch gar nicht reif ist für die Revolution, anzuschieben, indem man sie reif schiesst: «Wo die Bedingungen objektiv betrachtet nicht entwickelt genug waren, um einen Angriff auf die Bastionen der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Macht zu eröffnen, konnte sich die Guerilla einschalten, um durch die Entfachung einzelner Brandherde einen Flächenbrand auszulösen.»
Genau dieses Konzept des argentinischen Revolutionärs eignen sich deutsche Studenten Mitte der Sechziger an. Im Mittelpunkt steht erst Dieter Kunzelmanns «Subversive Aktion», bevor Rudi Dutschke dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund das Konzept einer «Verweigerungs- und Sabotage-Guerilla» präsentiert, das später von der Roten-Armee-Fraktion zur «Stadtguerilla» ausgebaut und umgesetzt wird. Der unter den Aktivisten vorherrschende Geist ist zunächst mehr fröhlich anarchistisch als militant. Man will die Republik nicht brennen sehen, sondern die dämmernden Deutschen aus ihrem Herdenschlaf aufrütteln. Dann kommt der 2. Juni 1967. An dem Tag erschiesst der Polizist Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg. Danach kippt es. «Wenn ein unbewaffneter Demonstrant erschossen werden kann, dann kann das jedem von uns passieren», fasst Kraushaar die Stimmung von damals zusammen. Der «Aktivierungsschub» sei enorm gewesen.
Wer weiss, was passiert wäre, wenn der eine Warnschuss, den ein Beamter jetzt in Hamburg abgegeben hat, jemanden getroffen oder sogar getötet hätte. Die Krawalle haben gezeigt, dass es eine Massenbewegung ohnehin nicht mehr braucht. Was reicht, um die öffentliche Ordnung für Stunden oder sogar Tage ausser Kraft zu setzen, ist eine kleine, gut organisierte und auch über Ländergrenzen hinaus vernetzte linksextreme Szene. Und was hilft, ist ein linkes Milieu, das solche Ereignisse im Herzen immer noch als Akte der Verteidigung verklärt.