Je unübersichtlicher die Welt wird, desto mehr Übersichtlichkeit verlangen die Leser. Aber wenn alle die Geschichten, Meinungen und Analysen allzu vorhersehbar werden, dann leidet der Journalismus. Die «Republik» hat journalistisch jüngst einiges gewagt – und wird nun von der eigenen Blase abgestraft.
In meinen Anfangszeiten machte ich, mit einem kiloschweren Nagra-Tonbandgerät bewaffnet, Reportagen für den Österreichischen Rundfunk. Der für mich zuständige Redaktor in Wien sagte mir bei Gelegenheit: «Bei Ihren Beiträgen weiss man immer schon nach dem ersten Satz, wo Sie stehen.» Ich war Anfänger und verstand das damals als ein Kompliment.
Als sich die Welt noch einfach kartografieren liess, weil sie in zwei Lager gespalten war, konnte man aus dem Stand eine Einschätzung zu jedem Problem, zu jedem auch noch so abgelegenen Flecken der Welt abgeben. Je nach politischer Präferenz war es gut und richtig, wenn das kapitalistische Lager herrschte, schlecht und falsch, wenn Sozialismus regierte. Oder umgekehrt.
Den Zerfall dieser Ordnung empfanden zunächst viele als eine Befreiung. Doch das Gefühl der Befreiung wich irgendwann in den letzten bald dreissig Jahren einer Verunsicherung und dann einer neuen anstrengenden Orientierungslosigkeit. Um es kurz zu machen: Je unübersichtlicher die Welt wurde, desto stärker wurde auch das Bedürfnis von vielen, die simple Dualität zwischen gut und richtig gegen schlecht und falsch wiederherzustellen.
Das widerspiegelt sich nicht nur im Privaten oder Politischen, sondern auch in der veröffentlichten Meinung, in den Medien. Statt den neuen Freiraum zu nutzen und – wie man so schön sagt – ergebnisoffen an die Wirklichkeit heranzugehen, weil ja nichts interessanter ist als die verdichtete kunterbunte Widersprüchlichkeit der Realität, ersetzen Haltung und Behauptung immer mehr das gute alte journalistische Handwerk. Dabei wäre es doch – um nur diese beiden Beispiele zu erwähnen – unendlich spannend darzulegen, wie ein sich sozialistisch nennender Staat wie China mit kapitalistischen Methoden beneidenswerte Wachstumsraten erzielt. Oder wie das Politsystem in den USA mit einem Präsidenten umgeht, der einen echten Belastungstest für den Westen darstellt.
Stattdessen wollen viele Medien nicht nur belehrend schreiben, wie es sein sollte. Sie müssen auch die Wünsche und Haltungen ihrer Klientel bedienen. Sonst werden sie nicht nur mit Liebesentzug bestraft, sondern auch mit der Kündigung des Abonnements. Das letzte Beispiel in einer langen Reihe ist das Internet-Magazin «Republik». Eigentlich die Spiegelung der «Weltwoche». Bis hinein ins Personal. Constantin Seibt ist ein Roger Köppel, wenn der mal die Tinte nicht halten kann. Und genauso wie die «Weltwoche» in weiten Teilen das Weltbild ihrer Leserschaft bestätigt, tut das die «Republik» auch.
Mit einem Artikel unter dem Titel «3 Seiten, 30 Lügen» fällt sie über eine Rede der SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher her. Man muss sich die Ohren zuhalten, wenn man sich den Aufschrei ihrer Leser vorstellen würde, täte sie das mit dem gleichen Titel bei einer Rede von Cédric Wermuth. Schon ein Porträt über den SVP-Exponenten Alfred Heer führte zu Protesten der Leserschaft. Es wurde ernsthaft kritisiert, einer solchen Figur überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken. Es wurde ernsthaft bemängelt, dass im Porträt auch durchaus sympathische Seiten von Heer dargestellt wurden.
In der «Weltwoche», man mag das dem Geschick von Köppel oder einem grösseren Interesse an Rede und Widerrede zuschreiben, ist neben den reflexartig gegen den Mainstream und im Zweifelsfall für die SVP geschriebenen Artikeln auch anregend Quergedachtes möglich. Hier kann man sogar gegen den Besitzer, Verleger und Chefredaktor in seinem eigenen Blatt polemisieren. Das wäre in der «Republik» undenkbar. Nicht einmal weil die dort bestimmenden Köpfe, Constantin Seibt und Christof Moser, das nicht zulassen würden, sondern weil ihre zahlende Leserschaft, die sie nicht ganz zu Unrecht ihre Besitzer und Verleger nennen, das niemals tolerieren würde.
Ein entscheidendes Kriterium für die Überlebenschance eines Haltungs-Mediums ist, neben der Pluralität, die Fehlerkultur. Auch die «Weltwoche» muss ab und Gegendarstellungen und Niederlagen vor Gericht einstecken. Aber die «Republik» steckt gerade in einem Trommelfeuer von Kritiken an ihren grossen Storys. Ihre Start-Reportage aus den USA, ihr Stück über Bündner Filz, ihr Artikel über angebliches Mobbing an der ETH, ihre Recherche zur Gewerkschaft Unia und nicht zuletzt der Lügen-Vorwurf werden infrage gestellt. Dabei werden der «Republik» zahlreiche Fehler vorgehalten. Wie sie damit umgeht, wird über ihre Zukunft entscheiden. Reagiert sie falsch darauf, würde die Medienlandschaft der Schweiz noch armseliger.