Der Psychologieprofessor Steven Pinker predigt das Evangelium einer Welt, die sich dauernd verbessert – nur argumentiert er mit Zahlen statt mit Geschichten. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Der Psychologieprofessor Steven Pinker predigt das Evangelium einer Welt, die sich dauernd verbessert – nur argumentiert er mit Zahlen statt mit Geschichten.
(Bild: Goran Basic / NZZ)

Interview

Steven Pinker: «Die Toilette war eine grossartige Erfindung!»

Die moderne menschliche Welt ist für ihn kein Jammertal, sondern eine unerhörte Erfolgsgeschichte. Der Harvard-Professor Steven Pinker hält den Intellektuellen, zu denen er selbst zählt, den Spiegel vor: Hört auf mit eurem gegenaufklärerischen Kulturpessimismus. Und gönnt euch ein wenig mehr Bescheidenheit.

René Scheu
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Herr Pinker, Sie haben eine wunderbare Botschaft für alle, die Ihnen zuhören wollen: Die Welt ist ein viel besserer Ort, als wir für gewöhnlich denken. Sie unterlegen das mit reichlich Zahlenmaterial: Wir werden immer älter, wir leben gesünder, wir arbeiten weniger, wir sind wohlhabender, die Welt wird demokratischer und friedlicher. Aber sagen Sie uns – warum haben wir so viel Mühe, die gute Botschaft anzunehmen?

Ich habe leider keine positiven Nachrichten für Sie. Für die Wahrnehmungsverzerrung sind Sie verantwortlich.

Sie meinen die Journalisten? Ich bemühe mich stets um eine akkurate Darstellung meiner Positionen und Informationen.

Dann liegt es nicht an Ihnen, wohl aber an Ihren Kollegen. Nein, im Ernst: Wir leben in medialisierten Gesellschaften, in denen wir fast alles, was wir wissen, von Medien wissen. Und die Medien präsentieren eine Sicht der Welt, die systematisch verzerrt ist.

Das ist ein happiger Vorwurf. Wie kommen Sie darauf?

Zunächst: Schlechte Dinge passieren sehr schnell, gute Dinge hingegen brauchen viel Zeit, bis sie sich etabliert haben und funktionieren. Ein Reaktor kann explodieren, ein Gebäude einstürzen, ein Krieg ausbrechen, ein Terrorist angreifen – das sind News, brandaktuelle, heisse, heissgeliebte News. Aber wenn sich jeden Tag 130 000 Menschen aus extremer Armut befreien, dann ist das keine Schlagzeile wert. Die Journalisten und Intellektuellen legen den Fokus gerne auf Korruption, Scheitern, Misere. Das ist eine bewusste Entscheidung. Wenn ich eine Zeitung lese oder eine News-Website besuche, muss ich zum Schluss kommen: Diese Welt ist ein Jammertal. Nur, das stimmt nicht.

Es gibt zwar einige journalistische Initiativen, die bewusst auf das Verbreiten guter Nachrichten setzen, doch sind sie kaum von Erfolg gekrönt. Es scheint so, als wollten die Leute so etwas nicht dauernd lesen.

Das ist wohl wahr. Aber das macht die Sache nicht besser. Oftmals sind keine News gute News: Denn wenn nichts passiert, passiert auch nichts Schlimmes. Wer schreibt über alle die Menschen, die dank medizinischem Fortschritt nicht frühzeitig sterben mussten? Wer berichtet über all die Kriege, die nicht stattgefunden haben, weil dank guten Institutionen Frieden herrscht?

Je reicher eine Gesellschaft ist, desto mehr hat sie zu verlieren. Verlustaversion ist eine mächtige Triebfeder, die unsere Wahrnehmung verzerrt.

Das sind interessante Überlegungen. Hört man sie zum ersten Mal, überzeugen sie einen auch – aber der Effekt nutzt sich ab. Kommen Sie sich zuweilen vor wie ein Priester, der das Evangelium einer Welt predigt, die in den letzten Jahrzehnten so viel besser geworden ist?

Nicht wirklich. (Lacht.) Oder kennen Sie einen Prediger, der ständig Zahlen und Statistiken vor sich her betet?

Gehen wir in die Tiefe und analysieren, warum die Schere zwischen objektivem Wohlstand und subjektivem Wohlbefinden immer weiter auseinanderklafft . . .

. . . gerne.

Lassen Sie uns also ein kleines Gedankenexperiment anstellen, im Sinne des Philosophen John Rawls. Wenn Sie die sich beklagenden Menschen hier in der Schweiz fragen würden, wann und wo sie ohne näheres Wissen über die Startbedingungen am liebsten lebten, würden sie – so meine Vermutung – sagen: «Hier und jetzt!»

Was macht Sie so sicher, dass die Leute in diesem Sinne antworten würden?

Weil wir doch insgeheim wissen, dass wir im Westen auf hohem Niveau klagen. Das ist übrigens ein Topos, der in nachdenklichen Tischrunden auch gerne herumgeboten wird: Es geht uns zu gut, darum machen wir uns Probleme, wo keine sind.

Hier haben Sie einen Punkt. Je reicher eine Gesellschaft ist, desto mehr hat sie zu verlieren. Verlustaversion ist eine mächtige Triebfeder, die unsere Wahrnehmung verzerrt, und sie wächst mit dem Wohlstand: Je reicher die Gesellschaft ist, desto stärker rücken die Gefahren in den Vordergrund statt die Chancen. Die Verlustangst kombiniert sich jedoch mit einer weiteren Verzerrung.

Schiessen Sie los.

Wir wissen aus vielen Studien, dass es eine grosse Diskrepanz gibt zwischen der Art und Weise, in der Menschen ihre eigene Position beurteilen, und jener, wie sie die Situation ihrer Mitbürger bewerten. Sie sind optimistisch, was ihr Leben angeht, aber eher pessimistisch, was das Leben der anderen angeht. Wenn Sie Leute fragen, wie glücklich sie sind, werden sie Ihnen unabhängig davon, wie sie ihre eigene Zufriedenheit einschätzen, zur Antwort geben: Wir sind glücklich, aber die Gesellschaft insgesamt ist es nicht. Dasselbe gilt für die Schulen der Kinder: Diese Schule ist ganz okay, aber die Schulen der Kinder von Freunden, nun ja, die sind ziemlich schlecht.

Das wird ja immer besser! Warum agieren wir so? Wir könnten cool bzw. zynisch sagen: Solange es mir gut geht, ist alles in Ordnung, ich brauche mich nicht zum Anwalt jener aufzuschwingen, denen es meiner Meinung nach nicht gut geht. Und selbst wenn ich mich zum Anwalt aufschwingen sollte, müsste ich sie zuerst fragen, wie es ihnen tatsächlich geht, statt einfach über sie zu richten.

Ich fürchte, hier schliesst sich der Kreis, und wir landen wieder bei den Medien – also Ihrer Zunft. Die Medien berichten von einer Welt, die sich präsentiert, als wäre sie ein Jammertal. Katastrophe reiht sich an Katastrophe, Desaster an Desaster. Die Leute haben aufgrund ihres Medienkonsums tatsächlich Grund zur Annahme, dass es anderen schlechter geht als ihnen. Also schauen sie auf die anderen herab – oder empfinden mit ihnen.

Jüngste Studien zeigen: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Unglück. Ganz im Gegenteil.

In unseren Gesellschaften vergleicht sich längst jeder mit jedem, den Medien sei Dank. Er schaut sich seinen Nachbarn oder einen unbekannten Manager an und denkt bei sich: Die haben das nicht verdient, ich, der ich ja ein guter Mensch bin, hingegen schon. Rührt die schlechte Meinung über die eigene Gesellschaft womöglich auch von diesem Zwang zum ständigen Vergleich her?

Wir vergleichen uns laufend, das stimmt. Aber wenn Ihre These zuträfe, dann müssten ja ökonomisch stark ungleiche Gesellschaften insgesamt weniger glücklich sein als eher egalitäre. Und in der Tat wurde diese Überzeugung über Jahrzehnte gepflegt, gerade von den Intellektuellen. Jüngste Untersuchungen zeigen nun aber, dass es hierfür keine Evidenz gibt. Die Soziologen Jonathan Kelley und Mariah Evans haben 2017 eine aufsehenerregende Studie veröffentlicht, in der sie dem Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Wohlbefinden nachgingen. Sie haben Aussagen von 200 000 Personen aus 68 Gesellschaften aus den letzten drei Jahrzehnten ausgewertet. Ihr Befund: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Unglück. Ganz im Gegenteil.

Was zählt, ist nicht die sogenannte relative Armut, die am Durchschnitt gemessen wird, sondern die absolute Armut – also ob man sich ein anständiges Leben leisten kann oder nicht?

Genau so ist es. Je wohlhabender eine Gesellschaft ist, desto glücklicher ist sie auch. Hierfür gibt es eine Menge Evidenz.

Die Leute in Dänemark und Norwegen gelten als besonders glücklich. Das hat also weniger damit zu tun, dass sie viel umverteilen, und mehr damit, dass alle gut leben, selbst die relativ Ärmeren unter ihnen?

Korrekt. Daraus lässt sich nun aber kein Programm zur Abschaffung des Sozialstaates ableiten. Umgekehrt ist gerade er es, der die Leute vor absoluter Armut bewahrt.

Wie erklären Sie sich dann die Gleichheits-Obsession, die in der Berichterstattung der Medien in reichen Gesellschaften zum Ausdruck kommt?

Die Gleichheit ist ein Steckenpferd der Public Intellectuals. Doch vermischen sie Ungerechtigkeit mit Ungleichheit. Ungerecht ist, wenn zwei Menschen für dieselbe Arbeit unterschiedlich bezahlt werden, aber nicht, wenn sie für unterschiedliche Leistungen ungleich verdienen. In ärmeren, aber auch reicheren Gesellschaften kann Ungleichheit auch als Opportunität gesehen werden: Wenn ich mich ebenso anstrenge wie andere, dann kann ich auch so viel bekommen wie andere. Christina Starmans und Paul Bloom haben diese Erkenntnisse jüngst auch auf psychologischer Ebene bestätigt. Menschen hegen keine grundsätzliche Aversion gegen Ungleichheit. Die Leute haben ein Problem mit Ungerechtigkeit und nehmen, um sie zu korrigieren, auch eigene Nachteile in Kauf. Aber sie haben kein Problem mit Ungleichheit, sofern sie nicht auf Ungerechtigkeit beruht.

Stets zuvorkommend, auch wenn's weh tut: Steven Pinker vor dem Hotel Kindli in Zürich. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Stets zuvorkommend, auch wenn's weh tut: Steven Pinker vor dem Hotel Kindli in Zürich. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Sie sprechen immer wieder von «den» Intellektuellen. Finden Sie also, es gebe so etwas wie eine intellektuelle Klasse, einen eigenen Stand mit kohärenter Haltung und Wahrnehmung?

Mit Intellektuellen meine ich ganz allgemein Journalisten, Meinungsführer und Kritiker, also Leute, die ihre Brötchen damit verdienen, ihre Meinung kundzutun. Und ja, ich sehe bei vielen von ihnen ein ähnliches Mindset am Werk, eine Art Mainstream. Die meisten – in den USA, aber auch in Europa – bilden sich viel ein auf ihre Skepsis gegenüber den Institutionen der Moderne, also gegenüber Regierungen, Märkten, Wissenschaft und neuen Technologien. Das hat damit zu tun, dass viele Intellektuelle ihre Rolle darin sehen, den Status quo infrage zu stellen. Das ist auch verständlich. Sie verstehen sich als Kritiker per se, sie erzielen damit Aufmerksamkeit, und sie wollen ihre beruflichen Rivalen auch immer schön unter Druck setzen. Nur – ohne diese Institutionen ginge es uns nicht so gut, wie es uns eben geht, und ohne sie hätten diese Kritiker gar nichts zu kritisieren, weil sie mit grösster Wahrscheinlichkeit gar nicht den Job hätten, den sie eben haben, weil es ihn nicht gäbe.

Zugegeben: Manche Intellektuelle sind eher miesepetrige Zeitgenossen. Aber doch nicht alle!

Nicht alle, aber viele. Das intellektuelle Establishment in Kombination mit unserem Bildungssystem – nun ja, das kann die Köpfe der Leute schon mit einer Verachtung gegenüber unseren Institutionen vergiften, die nicht auf der Höhe der Zeit ist.

Das ist pauschal gesagt, gehen wir in die Details. Wie würden Sie denn diesen Mainstream der Miesepetrigkeit inhaltlich näher beschreiben?

Das ist gar nicht so einfach. Die Miesepetrigkeit stellt ja keine eigentliche Religion mit einem offiziellen Glauben dar. Ich erkenne im Wesentlichen zwei Grundhaltungen, die sich amalgamieren: In diesem Mainstream finden sich Elemente radikal linker Ideen, also ein grundsätzlicher Widerstand gegen alles Westliche, zusammen mit einem Kulturpessimismus, der sich bis zur Romantik zurückverfolgen lässt. Die Romantik war eine Reaktion auf Aufklärung und Fortschritt, sie betonte das Gleichgewicht statt die Dynamik, das Kollektiv statt das Individuum, den Nationalgeist statt die universale Vernunft, das angeblich einfache glückliche Leben statt den Wohlstand. Schopenhauer, Nietzsche, Spengler, Toynbee, Sartre, Adorno, Heidegger und all die Poststrukturalisten, die später kamen und sich auf diese Denker beriefen, waren auf ihre Weise echte Romantiker. Ihre Werke werden an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten auch heute noch verschlungen. Kulturpessimismus ist in den Humanities sozusagen Programm.

Mir scheint, Sie werfen hier unterschiedliche Dinge in denselben Topf. Gerade die französischen Philosophen sahen und sehen sich als gesellschaftliche Avantgarde, als Progressive.

Ich halte das für ein grosses Missverständnis. Erklärte Progressive hassen im Grunde oftmals den Fortschritt. Sie sehen sich als die «Guten», die gegen die «Schlechten» kämpfen. Und ja, klar, natürlich war es wichtig, die Sklaverei abzuschaffen und die Nazis zu besiegen. Aber so funktioniert Fortschritt nicht, jedenfalls nicht jener Fortschritt, um den es mir geht. Fortschritt geschieht, wenn verschiedene Menschen durch ihre Handlungen, Ideen und Erfindungen die Welt verbessern, indem sie Probleme zu lösen versuchen. Wir alle kämpfen gegen die Unordnung an, die im Universum gemäss dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ohne Input von Energie und Information ständig zunimmt. Die Toilette war eine grossartige Erfindung, ebenso das Penicillin oder die Elektrizität! Zuerst kommt der wissenschaftliche und ökonomische Fortschritt, dann folgt ihm der moralische auf dem Fusse.

Die meisten tollen Dinge entstehen durch Versuch und Irrtum, indem Tausende, manchmal auch Millionen von Individuen durch ein Netzwerk interagieren.

Sie bemühen ein klassisch liberales Argument: Die grossen Fortschritte beruhen zwar auf menschlichem Handeln, aber eben nicht auf menschlicher Planung. Tendieren Intellektuelle dazu, ihren Intellekt zu überschätzen?

Das kommt vor. (Lacht.) Intellektuelle überschätzen Ordnungen und Institutionen, die sich von expliziten Aussagen ableiten lassen. Sie projizieren ihr Schritt-für-Schritt-Kalkül auf die Welt, aber so tickt die Welt nicht, weder die nichtmenschliche noch die menschliche. In Wahrheit entstehen die meisten tollen Dinge durch Versuch und Irrtum, indem Tausende, manchmal auch Millionen von Individuen durch ein Netzwerk interagieren. Es war Friedrich August von Hayek, der hier ein starkes Argument formulierte: Auch wenn die Individuen nicht besonders intelligent sind, können unglaublich intelligente Dinge entstehen, die kein Superintellekt sich jemals hätte ausdenken können.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel die Marktwirtschaft, die den meisten Menschen bisher ungeahnten Reichtum beschert hat. Oder die Sprache. Niemand hat sie auf dem Reissbrett entworfen, und doch haben alle menschlichen Sprachen eine eigene Grammatik und funktionieren so gut, dass wir sie täglich benutzen – im digitalen Zeitalter mehr denn je. Oder soziale Normen, die sich spontan herausbilden und das menschliche Zusammenleben in Friedenszeiten erfolgreich regeln, auch wenn sie nirgendwo verbrieft sind.

Ein Intellektueller nach Ihrem Verständnis wäre also jemand, der immer auch die Grenzen seines Verstandes erkennt. Wer sie ignoriert, fühlt sich zwar als Superintellektueller, räsoniert aber unterkomplex.

Schön gesagt – das ist die Ironie der Intellektuellen oder derer, die sich dafür halten. Gerade Geisteswissenschafter schauen oft auf Ingenieure und Techniker herab, weil diese nicht hinreichend sophisticated seien. In Wahrheit verhält es sich genau umgekehrt: Wer so denkt, hat das Wesen des menschlichen Intellekts nicht verstanden. Und dann gibt es natürlich die, die sich keinen Deut um Intellektualität scheren und aus Prinzip behaupten, alle Intellektuellen seien sowieso Idioten. Das ist die reaktionäre Form der Intelligenzia: Sie schliessen von der eigenen Beschränktheit auf jene der anderen. Romantiker und Reaktionäre sind verwandt und zwei Ausprägungen moderner Ignoranz: Die einen wollen Stillstand, die anderen wollen zurück ins goldene Zeitalter, das es nie gab, aber beide vermögen letztlich die sie umgebende Welt nicht ansatzweise zu verstehen.

Sie selbst sind selbst Teil des sogenannten «Intellectual Dark Web», eines informellen amerikanischen Netzes von Journalisten, Entertainern und Professoren. Der Name klingt furchteinflössend, als wollten diese Leute im Netz eine Gegenöffentlichkeit aufbauen. Was hat es damit genau auf sich?

Der Begriff ist humoristisch zu verstehen. Wir sind die Bösen – weil wir die Orthodoxie zu Gleichheit und Gender nicht teilen, die in vielen Mainstream-Medien und geisteswissenschaftlichen Fakultäten vorherrscht. Es ist unglaublich. Ein paar der Leute, die da mitmischen, haben ein grösseres Publikum als etablierte Medienhäuser. Zum Beispiel Joe Rogan, ein früherer Stand-up-Comedian und Kampfsport-Kommentator. Mit seinen unkonventionellen Gesprächen zieht er ein Millionenpublikum an. Ich war schon bei ihm zu Gast, ebenso wie Elon Musk. Und mehr Leute erkennen mich auf den Flughäfen aufgrund dieser Show als aufgrund anderer Fernsehauftritte.

Wie sind Sie zum Web gestossen?

Ich wurde von Sam Harris angefragt, dem Philosophen und Neurowissenschafter. Wir sind befreundet. Dennoch war ich zunächst etwas besorgt – war das womöglich so eine trumpistische, verschwörungstheoretische Unternehmung? Ich merkte dann schnell, dass dies nicht der Fall ist. Und mittlerweile werde ich von vielen Freigeistern angefragt, ob ich ihnen helfen könne, sie ins Web zu hieven.

Der streitbare Psychologe Jordan Peterson gehört ebenfalls dazu. Welches Verhältnis pflegen Sie zu ihm?

Wir haben einen ähnlichen Hintergrund: Wir sind beide Kanadier, beide Psychologen, beide Harvard-Professoren, beide leidenschaftliche Anhänger der freien Rede. Zugleich sind wir jedoch ziemlich verschieden. Peterson hat einen anderen intellektuellen Stil, er ist wohl tatsächlich ein Prediger, er ist ein Mystiker, er liebt es zu assoziieren, er geht an die Schmerzgrenze. Ich bin demgegenüber wohl eher der klassische Typ des Wissenschafters.

Was haben Sie gegen die Unterscheidung von Gender und Sex?

Gar nichts. Ich bin nur gegen die Reduktion von Sex auf Gender. Das biologische Geschlecht spielt tatsächlich eine Rolle.

Männer und Frauen ticken anders?

Zuerst einmal – jeder Unterschied der beiden Geschlechter ist statistischer Art und erlaubt keine Vorhersage über den einzelnen Menschen, der vor uns steht. Aber ja, es gibt solche statistischen Unterschiede in den Motivationen und Präferenzen zwischen den Geschlechtern.

Aha. Welche denn?

Der grösste Unterschied besteht wohl in den sexuellen Vorlieben. Männer sind in ihrem Begehren polygamer als Frauen. Das gilt, wie gesagt, nicht für jeden einzelnen Mann und jede einzelne Frau. Und es heisst auch nicht, dass Männer ihre Phantasien ausleben. Lassen Sie mich Jimmy Carter zitieren, der in einem Interview mit dem «Playboy» 1976 sagte: «Ich habe in meinem Herzen mehrfach Ehebruch begangen.» Die Aussage, die sehr ehrlich war, denn er lebte monogam, kostete ihn fast sein Amt. Selbst der Dalai Lama gab zu, dass er schönen Frauen nachblickt. Wenn man von diesen Unterschieden im Begehren weiss, braucht es auch niemanden mehr zu erstaunen, dass Männer mehr Prostitution und Porno konsumieren – und mehr Frauen belästigen als Frauen Männer. Die Wissenschaft ist hier sehr klar, allerdings braucht es hierfür auch keine Wissenschaft – wir wissen das alles von unserem Alltag.

Frauen haben im Durchschnitt eine bessere Intuition als Männer. Männer vertrauen eher auf ihr Kalkül und gehen darum höhere Risiken ein.

Würden Sie auch sagen, dass Frauen mitfühlender sind als Männer?

Sie können Gesichtsausdrücke besser lesen, haben im Durchschnitt eine bessere Intuition als Männer. Männer vertrauen eher auf ihr Kalkül, gehen darum höhere Risiken ein, fühlen sich zu geschlossenen Systemen mit formellen Regeln hingezogen – zum Beispiel zu Maschinen. Der Psychologe Simon Baron-Cohen spricht von einem Kontinuum zwischen «empathising» und «systemizing»: Die Frauen tendieren zu Ersterem, die Männer zu Letzterem.

Sie sprechen ruhig und besonnen. Haben Sie keine Angst, des Sexismus geziehen zu werden, wenn Sie solche Erkenntnisse in Ihren Vorlesungen zitieren?

Nein, ich habe damit keine Probleme. Dem pauschalen Vorwurf des Sexismus liegt übrigens ein Denkfehler zugrunde: Die empirische Behauptung, dass Männer und Frauen nicht gleich sind, wird mit der moralischen Behauptung vermengt, dass beide gleich zu behandeln sind. Das ist ja derselbe Denkfehler, den überzeugte Sexisten begehen, wenn sie sich das Recht herausnehmen, Frauen zu traktieren, zu bevormunden oder auszubeuten. Die moralische Behauptung ist fundamental wichtig – ich sehe mich darum als Feministen.

Sie fühlen sich also frei in Harvard, zu forschen und zu lehren, wie und was Sie wollen?

Absolut. Ich wurde nie mit Protesten oder Demonstrationen konfrontiert. Die Studenten sind sehr aufgeschlossen, sie wollen lernen und sich verbessern. Und ich habe gegenüber jüngeren Professoren-Kollegen einen grossen Vorteil: Ich bin fest angestellt, kann also höhere Risiken eingehen, da ich nicht von der Zustimmung meiner Studenten abhänge.

Aber Sie bekommen mit, dass viele amerikanische Universitäten Safe Spaces einrichten, Trigger Warnings abgeben und die Konfrontation mit empfindsamen Studenten meiden?

Intoleranz und Illiberalismus nehmen in der Akademie zu. Das höre ich von Kollegen. Ich halte diese Entwicklung für gefährlich.

Immanuel Kant nannte Feigheit und Faulheit die beiden Hauptfeinde der Aufklärung.

Einverstanden! Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine kleine Minderheit von Studenten die Intoleranz zur neuen Norm erheben will. Das Problem ist, dass der akademische Mittelbau und die in die Jahre gekommenen Bürokraten bisher mitmachten. Das sind Babyboomer, die mit dieser neuen Intoleranz sympathisieren – sie wollen, dass nur ihre Orthodoxie gilt. Aber Widerstand formiert sich, vonseiten der Studenten und der Professoren.

Kant war ein Optimist – er gab sich überzeugt, dass die Welt längerfristig eine bessere sein werde. Welche Entwicklungen geben ihm auch heute recht?

Die massive Reduktion extremer Armut weltweit ist ein Trend, der zeigt, wozu wir fähig sind. Die Mehrheit der Menschen gehört heute zur Mittelklasse. Und 90 Prozent aller Menschen unter 25 sind alphabetisiert. Wer hätte das vor fünfzig Jahren gedacht?

Sie bewundern also die Welt wie vordem Kant: den gestirnten Himmel über Ihnen und das moralische Gesetz in Ihnen?

Ich bin voller Bewunderung. Allerdings bleibe ich bescheiden: Wir werden wohl nie mehr als einen kleinen Teil des Lebens verstehen, das wir selbst sind.

Pinker mag’s gerne kühl

rs. Wenn er auf Vortragstour ist, füllt er die Säle. Unlängst hat er Station in Zürich gemacht. Steven Pinker spaltet die lesende Welt in zwei Fraktionen: die Pinkerianer und die Nicht-Pinkerianer, die effektiven Optimisten und die prinzipiellen Pessimisten. Dabei hat es der Harvard-Professor, dessen umfangreiches neues Werk «Aufklärung jetzt» eben auf Deutsch erschienen ist (Fischer-Verlag, 2018; hier bestellbar*), nicht auf eine Gefolgschaft abgesehen. Vielmehr zählt er zu jenen Wissenschaftern, die sich als freie Geister im besten Sinne apostrophieren lassen: Nichts kann ihn erschüttern, nichts kann ihn einschüchtern, stets argumentiert er glasklar, stets zitiert er die neuesten Erkenntnisse, stets bleibt er freundlich im Ton. Verpflichtet ist er allein der Wahrheit – obwohl er zugleich weiss, dass sie dem Menschen in ihrer ganzen Fülle zuletzt verborgen bleiben muss.

Pinkers neues Buch hat in der angelsächsischen Welt für viele hitzige Debatten gesorgt. So manche Gewissheiten werden darin als Denkreflexe von Berufsintellektuellen entlarvt. Nein, die Welt wird nicht immer ärmer, sondern reicher. Nein, wir brauchen uns vor dem technischen Fortschritt nicht zu fürchten, sondern können uns daran erfreuen. Nein, die Welt wird nicht brutaler, sondern friedlicher – und gerechter. Das alles belegt der Autor mit einer Menge Zahlen und Studien. Ob es hilft? Pinker sieht sich als Vertreter einer neuen Aufklärung, die nicht schreit, sondern ruhig spricht, nicht kategorisiert, sondern kalkuliert. Der Stil ist kühl – aber gerade darum über weite Strecken so wohltuend.

Steven Pinkers Auftritt in der Sternstunde Philosophie von SRF findet sich hier.

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