Ist Schweden ein gefährliches Land für Frauen?

Kritiker von Schwedens offener Immigrationspolitik sehen einen Zusammenhang zwischen der wachsenden Zahl Asylsuchender und einer hohen Rate an Sexualdelikten. Doch die Realität ist komplizierter.

Rudolf Hermann, Stockholm
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Das Beispiel von Schweden als europäischem Land mit der angeblich höchsten Rate von Vergewaltigungen hat in jüngster Zeit in Online-Foren und an anderen Orten der öffentlichen Diskussion wiederholt die Runde gemacht (Aufnahme: Stockholm). (Bild: Imago)

Das Beispiel von Schweden als europäischem Land mit der angeblich höchsten Rate von Vergewaltigungen hat in jüngster Zeit in Online-Foren und an anderen Orten der öffentlichen Diskussion wiederholt die Runde gemacht (Aufnahme: Stockholm). (Bild: Imago)

Will man der Statistik glauben, gab es im Jahr 2010 für Frauen kein gefährlicheres Land in Europa als Schweden. Die Zahlen des United Nations Office on Drugs and Crime scheinen es schwarz auf weiss zu belegen: Pro 100 000 Einwohner wurden in Schweden 63,5 Fälle von Vergewaltigung der Polizei gemeldet. Weltweit wurde bloss für Botswana eine höhere Rate ermittelt (92,9 Fälle). Die skandinavischen Nachbarn Norwegen und Finnland stehen hingegen mit 19,2 beziehungsweise 15,2 gemeldeten Fällen wesentlich besser da als Schweden.

Lückenhafter Datensatz

Glaube keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast, sagt ein Bonmot. In diesem Fall müsste es heissen: Traue keiner Statistik, von der du nicht weisst, wie sie zustande gekommen ist und was genau sie aussagt. Das Beispiel von Schweden als europäischem Land mit der angeblich höchsten Rate von Vergewaltigungen hat in jüngster Zeit in Online-Foren und an anderen Orten der öffentlichen Diskussion wiederholt die Runde gemacht – bisweilen sogar in kausalen Zusammenhang gesetzt mit Stockholms traditionell offener Flüchtlingspolitik, die Schweden pro Kopf der Bevölkerung zum grössten Aufnahmeland der EU hat werden lassen. Als «Beweis» musste nicht selten die zitierte Uno-Statistik herhalten.

Dabei berücksichtigt diese Statistik nur Daten, die von den einzelnen Ländern freiwillig zur Verfügung gestellt wurden – folglich sind von vielen Staaten keine Daten vorhanden. Doch selbst wenn man dies ausser acht lässt, ist die Folgerung unzulässig, Schweden habe die höchste Vergewaltigungsrate in Europa. Denn entscheidend ist, dass Schweden den Tatbestand der Vergewaltigung anders erfasst als etwa Norwegen. Stockholm zählt jeden Akt separat, was etwa dann zu einer höheren registrierten Anzahl führt, wenn Täter und Opfer gleich bleiben, die Tat sich aber wiederholt (etwa bei Vergewaltigung in der Ehe). In anderen Ländern würde dies von der Polizei als ein einziger Fall behandelt. Ferner haben auch die juristische Abgrenzung von Vergewaltigung und sexueller Nötigung und das Prozedere der polizeilichen Erfassung einen Einfluss auf die statistischen Resultate . Diese Spezifika müssen aber berücksichtigt werden, wenn man definieren will, welche Position Schweden im europäischen Kontext beim Problem sexueller Gewalt innehat.

Offene Diskussion nötig

Auf allgemeiner Ebene betrachtet, gibt es im nordischen Raum aber durchaus Hinweise darauf, dass zwischen Migration und Sexualverbrechen direkte Zusammenhänge bestehen: Eine norwegische Fernsehstation etwa berichtete unlängst , dass von 399 Personen, die im Jahr 2015 wegen Sexualverbrechen verurteilt worden seien, 90 einen Migrationshintergrund hätten. Damit sind Migranten – definiert als Angehörige eingewanderter Familien oder Kinder zweier eingewanderter Eltern – im Vergleich zu ihrem Anteil von 15 Prozent an der Gesamtbevölkerung in Norwegen überproportional vertreten. Wo der tiefere Grund dafür liegt – in mitgebrachten Wertvorstellungen, Ausgrenzung oder einer Kombination der Faktoren –, wäre allerdings genauer zu untersuchen.

Was Schweden anbelangt, ist es indes nötig, dass das Land zu einem offenen Umgang mit dem Thema Immigration findet. Damit tat man sich bisher eher schwer. Die Politik postuliert für das Land eine Vorreiterrolle in einer gleichberechtigten und toleranten, multikulturellen Gesellschaft. Dabei wird gerne verdrängt, dass diese Wünsche teilweise miteinander in Konflikt stehen.

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