Interview

«Was Griechenland an der Grenze zur Türkei tut, ist illegal»

Der Asylrecht-Spezialist Constantin Hruschka kritisiert das Vorgehen der griechischen Behörde gegen Migranten. Eine gesamteuropäische Koordination in der Asylfrage hält er angesichts der unterschiedlichen Interessen jedoch für unwahrscheinlich.

Andreas Ernst und Ulrich von Schwerin
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Einer von Tausenden Migranten, die an die türkisch-griechische Grenze gereist sind in der Hoffnung, nach Europa zu gelangen. Doch Griechenland hat die Grenze abgeriegelt und lässt niemanden hinein.

Einer von Tausenden Migranten, die an die türkisch-griechische Grenze gereist sind in der Hoffnung, nach Europa zu gelangen. Doch Griechenland hat die Grenze abgeriegelt und lässt niemanden hinein.

Sedat Suna / EPA

Griechenland hat in Reaktion auf die türkische Ankündigung, die Grenze für Flüchtlinge zu öffnen, das Asylrecht für einen Monat ausgesetzt. Herr Hruschka, ist das rechtlich zulässig?

Nein, es war der Grundkonsens nach dem Zweiten Weltkrieg, dass man jeden Asylantrag annimmt und prüft. Das steht auch so im Schengener Grenzkodex und in den Dublin-Verträgen. Als EU-Land darf Griechenland das Asylrecht nicht aussetzen. Nach Ansicht mancher Experten gäbe es eine Ausnahme, wenn die Funktionsfähigkeit des Staates unmittelbar gefährdet wäre, also der Staat vor dem Zusammenbruch stünde.

Und diese Situation ist gegenwärtigen nicht gegeben?

Nein, es sind ja auch sehr viel weniger Personen unterwegs als 2015 und 2016. Zudem hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg 2017 gesagt, wenn ein Staat überfordert sei, seien die anderen Mitgliedsstaaten verpflichtet, ihm zu helfen. Das ist der Grundsatz der Solidarität.

Man hört immer wieder, dass die griechischen Grenzschützer Flüchtlinge in die Türkei zurückschicken, ohne ihre Asylanträge zu prüfen. Gibt es dafür eine rechtliche Grundlage?

Nach dem EU-Asylrecht, an das Griechenland gebunden ist, darf niemand ohne individuelle Prüfung zurückgewiesen werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat das für Pushbacks von Ungarn nach Serbien erst im November so entschieden und gesagt, es sei individuell zu prüfen, ob eine Person Schutzbedarf habe oder ob sie in einem anderen Staat sicher sei. Das ist bei syrischen Flüchtlingen in der Türkei momentan nicht gewährleistet.

Der promovierte Jurist Constantin Hruschka forscht am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München zu Asyl- und Migrationsrecht. Er unterrichtet an der Universität Bielefeld und hat lange für das Uno-Flüchtlingshilfswerk gearbeitet.

Der promovierte Jurist Constantin Hruschka forscht am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München zu Asyl- und Migrationsrecht. Er unterrichtet an der Universität Bielefeld und hat lange für das Uno-Flüchtlingshilfswerk gearbeitet.

PD

Aber die Syrer geniessen unter den Flüchtlingen in der Türkei einen Sonderstatus. Sie haben Zugang zum Gesundheitssystem, ihre Kinder gehen zur Schule, viele haben Arbeit.

Da ist der grosse Streitpunkt, ob die Rechte der Syrer in der Türkei mit ihren Sonderkonditionen tatsächlich gewahrt sind. Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention mit dem Vorbehalt unterzeichnet, dass sie nur für Flüchtlinge aus Europa gelte. Sie ist daher nicht verpflichtet, die Syrer als Flüchtlinge anzuerkennen. Aus europäischer Sicht ist die Türkei daher kein sicherer Drittstaat. Es muss geprüft werden, was einer Person in der Türkei droht.

Nun gibt es ein neues Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach die Ausschaffung illegal eingereister Migranten aus der spanischen Exklave Melilla rechtens war.

Meiner Meinung nach besagt dieses Urteil, dass eine schutzbedürftige Person nicht abgeschoben werden darf. Die zwei Migranten, um die es in diesem Fall ging, waren eindeutig nicht schutzbedürftig. Ausserdem muss es die Möglichkeit geben, legal einen Asylantrag zu stellen. Beide Bedingungen sind im Fall Griechenlands nicht erfüllt. Ich kann nirgendwo an der griechischen Grenze legal einen Antrag stellen.

Ein Flüchtling kann ja in einem Konsulat in Istanbul einen Antrag stellen.

Es gibt nur wenige Länder, die das ermöglichen – Spanien gehört dazu, die Schweiz und Deutschland. Doch weiss das kaum jemand. Ausserdem ist das kein offizieller Asylantrag, sondern ein Antrag auf ein humanitäres Visum, das heisst ein langfristiges Bleiberecht aus humanitären Gründen. Dafür sind die Anforderungen sehr hoch. Griechenland bietet diese Möglichkeit nicht.

Die griechischen Grenzschützer setzen Tränengas und Blendgranaten gegen die Migranten ein. Inwiefern ist der Einsatz von Gewalt zur Verhinderung von Grenzübertritten zulässig?

Wenn ein Staat wissen kann und muss, dass eine Person Schutz sucht, darf er sie weder am Grenzübertritt hindern noch inhaftieren. Im Übrigen muss man im Einzelfall entscheiden, ob der Einsatz von Gewalt an der Grenze verhältnismässig ist. Im Fall Griechenlands gilt: Wenn klar ist, dass da syrische Flüchtlinge stehen, die einen Asylantrag stellen wollen, darf die Grenze nicht geschlossen werden.

Nun können die griechischen Grenzschützer aber nicht wissen, ob es sich um einen schutzbedürftigen Flüchtling handelt.

Deshalb hat man in der Genfer Flüchtlingskonvention 1951 beschlossen, dass ein Staat im Zweifel erst einmal den Einzelfall prüfen muss. Auch der EGMR hat in dem Urteil vor zwei Wochen bestätigt, dass Asylsuchende so lange als Flüchtlinge anzusehen sind, bis feststeht, dass sie es nicht sind.

Griechenland wäre also verpflichtet, alle Migranten an der Grenze zunächst ins Land zu lassen, damit sie Asyl beantragen können, und diesen Antrag dann zu prüfen?

Ein Staat kann es auch wie Ungarn machen und eine Transitzone an der Grenze einrichten, um den Asylantrag zu prüfen. Das hat den Vorteil, dass man die Person leichter zurückweisen kann, wenn sie nicht schutzbedürftig ist. Wenn ein Staat ein vernünftiges Verfahren an der Grenze hat, muss er also nicht jede Person durchlassen.

Gelten diese Regeln denn auch für die Türkei? Die hat ja ihre Grenze nach Syrien schon vor Jahren geschlossen und lässt keine syrischen Flüchtlinge mehr ins Land.

Das ist klar völkerrechtswidrig, gerade die Mauer, die die Türkei zu Syrien gebaut hat. Sie müsste den Flüchtlingen erlauben, aus Syrien zu fliehen.

Entspricht das Recht noch der Realität? Kann man von der Türkei tatsächlich verlangen, weitere Millionen von Flüchtlingen aufzunehmen?

Eine solche Last kann ein Staat nie alleine schultern. Die Flüchtlingskonvention sieht dafür internationale Kooperation vor. Deswegen hat man 2016 versucht, mit dem internationalen Flüchtlingspakt Mechanismen zu entwickeln, mit denen die Aufnahmestaaten entlastet werden. Das Problem gibt es ja schon lange – in Pakistan und Iran mit den afghanischen Flüchtlingen, in der Region der Grossen Seen mit den Flüchtlingen aus Rwanda.

Laut Dublin-Abkommen ist das erste Land der EU, in das ein Asylbewerber einreist, für das Verfahren zuständig. Ist dieser verpflichtet, auch dort den Bescheid abzuwarten?

Grundsätzlich ja. Ausser man einigt sich in der EU, das Dublin-System auszusetzen. Das geschah in der Flüchtlingskrise 2015/16, als Griechenland und Italien völlig überlastet waren. Die Idee war, Asylbewerber umzusiedeln. Das hat nicht gut funktioniert. Aber solche Entlastungen sind vom Europäischen Gerichtshof gedeckt, denn die Mitgliedsstaaten sind zu Solidarität verpflichtet.

Weshalb werden die Migranten eigentlich auf den griechischen Inseln festgehalten, statt sie auf dem Festland unterzubringen? Funktionieren die Inseln wie die ungarischen Transitzonen?

Das ist ein Graubereich. Personen können bis zu dreissig Kilometer nach der Grenze angehalten werden und gelten dann als nicht eingereist. Das gilt aber nur für 4 Wochen. Die Lage auf den Inseln ist insofern widerrechtlich. Aber das kümmert niemanden. Alle sind zufrieden, dass die Migranten dort sind.

Seit langem spricht man von der Dublin-Reform. Weshalb kommt sie nicht voran?

Die Interessen der Mitgliedstaaten sind völlig unterschiedlich. Die Ostmitteleuropäer sagen, bei uns gibt es dank Dublin keine Flüchtlinge; das soll so bleiben. Die Staaten an der Aussengrenze wollen dagegen eine Reform, auf deren Grundlage sie Asylbewerber weitergeben können. Das wiederum wollen die Mittelstaaten nicht, weil sie sich dann um diese Asylbewerber kümmern müssten. Allerdings will Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft 2020 einen Vorstoss machen, der eine Verteilung der Asylbewerber vorsieht. Dagegen wehren sich schon jetzt die Ostmitteleuropäer.

Die Kommission will einen neuen Migrationspakt. Aber wo gibt es überhaupt Raum für europäische Regelungen, wenn es die Mitgliedstaaten sind, die über Aufnahme oder Ablehnung entscheiden?

Das gemeinsame europäische Asylsystem ist so ausgelegt, dass überall wenigstens die festgelegten Mindeststandards eingehalten werden müssen. Das ist nicht der Fall. Und zwar deshalb, weil diese Reform viel zu schnell durchgeführt wurde. 2005 war die Rechtsgrundlage geschaffen, mit Stichtag 1. Januar 2007 hätte sie umgesetzt sein müssen. Viele Länder sind da ausgestiegen. Der neue Migrationspakt wird nochmals versuchen, Europa als gemeinsamen Rechtsraum zu begreifen.

Wie gross sind die Chancen? Vergrössert oder verkleinert die gegenwärtige Krise die Wahrscheinlichkeit europäischer Lösungen?

Die Differenzen werden jetzt noch grösser. 2015 hatte ich zeitweise das Gefühl, die Staaten sähen ein, dass sie zusammenarbeiten müssen. Doch seither sind die meisten Länder mit ihren nationalen Lösungen ziemlich gut gefahren. Ich sehe nicht, woher jetzt plötzlich dieser europäische Geist kommen könnte.

Die EU-Spitze ist demonstrativ an die griechisch-türkische Grenze gereist und hat den Griechen dazu gratuliert, dass sie die europäische Grenze verteidigen. Hilft das den Griechen?

Ursula von der Leyen versucht, die Krise als europäisches Thema zu lancieren. Auf der praktischen Ebene wird daraus nicht viel Unterstützung, wenn bloss die Frontex hingeschickt wird und sich bei der Unterbringung der Ankommenden und der Abwicklung der Asylverfahren nichts ändert.

Weshalb wurden die Griechen so lange alleingelassen?

Griechenland hat viel Unterstützung bekommen. Woran es fehlte, war der Aufbau eines funktionierenden Systems. Es gibt ja auch keine EU-Behörde, die einspringen könnte und über Asylanträge entschiede. Letztlich müssen das die Griechen allein machen. Die Griechen verweigerten sich aber auch europäischen Standards und setzen das Geld nicht so ein, wie sich das die EU vorstellte.

Ist Griechenland nicht willens oder nicht fähig, ein funktionierendes Asylsystem aufzubauen?

Hinter vorgehaltener Hand sagen EU-Beamte, die Griechen seien nicht in der Lage, eine vernünftige Verwaltung aufzubauen, das sehe man auch anderswo im Land. Doch mit solchen Urteilen muss man vorsichtig sein. Denn es fehlt auch am Willen: Würde das System funktionieren, gäbe es keinen Grund für eine Reform von Dublin und für Umverteilungen.

Wenn wir einen Schritt zurücktreten, scheint klar, dass wir das Asylsystem und die Einwanderungspolitik voneinander trennen müssen.

Es ist sehr umstritten, wieweit man das trennen kann, da es auch Grenzfälle gibt. Ich bin aber ihrer Meinung, dass Asyl nur für schutzbedürftige Personen da sein sollte. Wenn das Asylsystem nach dem Prinzip funktioniert, dass jemand kaum abgeschoben wird, wenn er einmal im Land ist, wird es als Einreiseweg benutzt. Eine Lösung kann meiner Meinung nach nicht auf europäischer, sondern nur auf weltweiter Ebene funktionieren, indem man sich auf Quoten für Flüchtlinge einigt. Die Asylfrage muss aus der Einwanderungspolitik der Nationalstaaten herausgenommen werden. Auf nationaler Ebene werden die beiden Themen immer vermischt.

Aber letztlich sind es die Nationalstaaten, die entscheiden, wer als Einwanderer gebraucht wird und willkommen ist.

Ja, die Einwanderungspolitik muss national bleiben. Die Bedürfnisse der Staaten sind ganz unterschiedlich. Doch wenn es eine internationale Behörde gäbe, die feststellt, wer schutzbedürftig ist, dann hätte man eine grössere Chance, das Asylsystem von einer gestaltenden Einwanderungspolitik zu trennen. Wie man das auf der praktischen Ebene tut, ist eine schwierige Frage. Doch man muss sich dieser Frage widmen.

Ist die Flüchtlingskonvention noch zeitgemäss? Oder müsste sie angesichts der gestiegenen Mobilität und der zunehmenden Konflikte angepasst werden?

Die Flüchtlingskonvention ist weiterhin zeitgemäss. Aber eben nur für den Bereich, den sie regelt: den internationalen Flüchtlingsschutz. Die erhöhte Mobilität muss migrationsrechtlich aufgefangen werden durch Einwanderungspolitik, Freizügigkeit und Arbeitsmarktregelung. Die steigende Zahl von Konflikten schafft Probleme, die separat von der Flüchtlingskonvention gelöst werden sollten: durch den Schutz von Binnenvertriebenen und die Verteilung von Flüchtlingen und anderen Gewaltvertriebenen. Wir brauchen also zusätzliche Regeln. Zudem wäre es wohl unmöglich, eine solche Konvention, die von 149 Staaten unterzeichnet wurde, in der heutigen Zeit noch zu reformieren.

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