Datenanalyse

Sitzt ein ganzer Kontinent auf gepackten Koffern? – Sieben Antworten zur Migration aus Afrika

Es kommen wieder mehr Migranten über das Mittelmeer nach Europa. Droht eine Migrationswelle aus Afrika?

Fabian Urech 8 min
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Zwei Drittel der Migranten, die über das Mittelmeer nach Europa reisen, stammen aus Afrika.

Zwei Drittel der Migranten, die über das Mittelmeer nach Europa reisen, stammen aus Afrika.

Illustration Anja Lemcke / NZZ

Wie soll Europa umgehen mit den Menschen, die in wackligen Booten übers Mittelmeer fahren, um hier ein neues Leben zu beginnen? Es ist eine Frage mit politischer Sprengkraft, die hitzig diskutiert wird – und der nicht selten die nötige Nüchternheit und Differenziertheit fehlt.

Die folgenden Antworten spiegeln die Vielschichtigkeit der Migration in Afrika. Und sie zeigen, dass die Zahl der Afrikanerinnen und Afrikaner in Europa in den kommenden Jahren tatsächlich ansteigen dürfte – wohl aber aus anderen Gründen als der Mittelmeer-Migration.

Wie viele Migranten überqueren derzeit das Mittelmeer?

Über Vorjahresniveau: In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR knapp 85 000 Migrantinnen und Migranten über das Mittelmeer nach Europa gereist. Diese Zahl bewegt sich über dem Niveau der Vorjahre, besonders zwischen Februar und April wurden deutlich mehr Ankünfte registriert. Von den Werten des Rekordjahres 2015 sind sie aber weit entfernt; damals reisten allein im Oktober über 200 000 Migranten übers Mittelmeer nach Europa – die meisten von ihnen von der Türkei nach Griechenland.

Dieses Jahr überquerten mehr Menschen das Mittelmeer als in den Vorjahren

Zahl der Migranten, die zwischen Januar und Juni über das Mittelmeer in Südeuropa ankamen
2019
2020
2021
2022
2023

Italien besonders betroffen: Die Mittelmeer-Migrationsrouten nach Griechenland und nach Spanien haben zuletzt an Bedeutung verloren. Derweil sind die Zahlen auf der Route von Nordafrika nach Italien deutlich angestiegen. In den letzten sechs Monaten sind dort so viele Bootsmigranten angekommen wie in den vier vorherigen Jahren zusammen. Die italienische Regierung hat aus diesem Grund Mitte April einen sechsmonatigen Notstand erklärt. Bereits Ende letzten Jahres hatte Rom bekanntgegeben, zeitweilig keine Flüchtlinge aus anderen europäischen Staaten zurückzunehmen.

Deutlicher Anstieg in Italien

Anzahl der Ankünfte von Migranten, die Italien zwischen Januar und Juni über das Mittelmeer erreichten

Der globale Trend zeigt nach oben: Während die Mittelmeer-Migration in den letzten Jahren nur leicht zugenommen hat, ist die weltweite Zahl der Menschen auf der Flucht massiv angestiegen. Laut einem neuen Bericht des UNHCR lag diese Ende 2022 bei 108,4 Millionen – so hoch wie noch nie. Im Zehn-Jahres-Vergleich hat sich die Zahl der Vertriebenen, zu denen das UNHCR Flüchtlinge, Asylsuchende und intern Vertriebene zählt, rund verdreifacht.

Dreimal mehr als vor zehn Jahren

Zahl der weltweit Vertriebenen (in Millionen)

Woher kommen die Migranten?

Afrikanische Länder an der Spitze: Zurzeit stammen rund zwei Drittel der Migranten, die über das Mittelmeer nach Griechenland, Spanien und Italien reisen, aus Afrika. In den letzten Jahren hat sich ihr Anteil erhöht. In Italien liegt dieser derzeit gar bei über 70 Prozent. In den Rekordjahren 2015 und 2016 war das noch anders: Damals stammte eine deutliche Mehrheit der Flüchtenden aus dem Nahen Osten.

Afrikanische Länder an der Spitze

Die Top-15-Herkunftsländer der Mittelmeer-Überquerer im Zeitraum zwischen Januar und Mai 2023

Nur wenige Herkunftsländer relevant: Die Mehrheit der afrikanischen Mittelmeer-Überquerer stammt aus einigen wenigen Ländern. In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres kam rund die Hälfte von ihnen aus Côte d’Ivoire, Ägypten oder Guinea. Die grosse Mehrheit der 54 Länder des Kontinents sind für Europa als Herkunftsländer von Migranten vernachlässigbar.

Hotspots innerhalb der Länder: Statistiken unterscheiden üblicherweise nach dem Herkunftsland der Migranten, nicht aber nach ihrer Herkunftsregion. Dabei zeigen Studien, dass es punkto Migration grosse regionale Unterschiede innerhalb vieler Länder gibt. Laut einer Untersuchung der Internationalen Organisation für Migration (IOM) stammt beispielsweise eine deutliche Mehrheit der guineischen Migranten in Europa aus lediglich 4 der insgesamt 33 Präfekturen des Landes. In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land des Kontinents, stammt rund die Hälfte der Migranten, die Richtung Mittelmeer aufbrechen, aus der Provinz Edo. In Côte d’Ivoire waren 51 Prozent der Migranten vor ihrer Abreise in der Wirtschaftsmetropole Abidjan wohnhaft.

Wohin gehen die afrikanischen Migranten?

Die meisten bleiben in der Nachbarschaft: Die grosse Mehrheit der afrikanischen Migranten verlässt den Kontinent nicht, weniger als ein Drittel von ihnen lebt in Europa. Subsahara-Afrika allein beherbergt zurzeit rund 7 Millionen Flüchtlinge – und noch deutlich mehr Arbeitsmigranten. Bis zum Ausbruch des Ukraine-Kriegs war Afrika die Weltregion, die am meisten Flüchtlinge beherbergte. Über ein Dutzend afrikanische Länder bietet mehreren hunderttausend Flüchtlingen Schutz. Spitzenreiter ist Uganda (1,4 Millionen Flüchtlinge), es folgen der Sudan (1,1 Millionen) und Äthiopien (0,9 Millionen).

Anzahl beherbergte Flüchtlinge und Asylsuchende (in Millionen)
2019
2022

Sowohl Herkunfts- als aus Zielland: Aufgrund der regen Migrationsbewegungen innerhalb Afrikas sind viele Länder sowohl Herkunfts- als auch Zielland für Migranten. Die wichtigste Migrationsroute in Westafrika führt nicht ans Mittelmeer, sondern von Burkina Faso nach Côte d’Ivoire. Das Land am Golf von Guinea steht damit exemplarisch für die Vielschichtigkeit der Migration: Während derzeit aus keinem anderen Land der Welt mehr Menschen Richtung Mittelmeer losziehen, zieht Côte d’Ivoire gleichzeitig selbst mehr Migranten aus den Nachbarstaaten an als jeder andere westafrikanische Staat.

Côte d’Ivoire: Viele gehen, noch mehr kommen

Anzahl Migranten in den Top-5-Ländern Westafrikas (in Millionen)

Vertriebene reisen selten weit: Laut UNHCR leben weltweit 77 Prozent aller Flüchtlinge in einem Land, das an ihren Heimatstaat grenzt. In drei von vier Fällen handelt es sich dabei um ein Entwicklungs- oder Schwellenland. Die Mehrheit aller Vertriebenen sind zudem sogenannte intern Vertriebene (IDP): Sie fliehen nicht ins Ausland, sondern suchen Schutz innerhalb ihres Heimatlandes. Ende 2022 gehörten weltweit 62,5 Millionen Menschen zu dieser Kategorie.

Die meisten Vertriebenen bleiben in ihrem Herkunftsland

Aufteilung der 108,4 Millionen Vertriebenen (Stand Ende 2022) (in Millionen)
Intern Vertriebene (im Herkunftsland)
Flüchtlinge und Asylsuchende (im Ausland)

Wie viele Afrikaner wollen ihre Heimat verlassen?

Eine Minderheit, aber mehr als anderswo: Gemäss verschiedenen Umfragen hegt eine Minderheit aller Afrikanerinnen und Afrikaner die Absicht, ihr Land zu verlassen. Laut dem Umfrageinstitut Afrobarometer, das sich auf Befragungen in 34 afrikanischen Ländern zwischen 2016 und 2018 stützt, haben 37 Prozent der Menschen bereits in Erwägung gezogen, auszuwandern. Allerdings treffen nur drei Prozent der Befragten entsprechende Vorbereitungen. Eine weltweite Gallup-Umfrage kam 2017 zu einem ähnlichen Resultat: Demnach haben 31 Prozent der Menschen in Subsahara-Afrika den Wunsch, zu emigrieren – deutlich mehr als im weltweiten Durchschnitt (14 Prozent), aber ähnlich viele wie in europäischen Nicht-EU-Ländern (27 Prozent).

Grosse Unterschiede zwischen den Ländern: Die Unterschiede zwischen den Ländern punkto Migrationsabsicht sind riesig. Während laut Afrobarometer in Sierra Leone, Gambia und Simbabwe jeder Zweite mit dem Gedanken spielt, das Land zu verlassen, ist es in Namibia, Tansania und Madagaskar nur jeder Fünfte. Gleiches gilt für jene, die sich auch tatsächlich darauf vorbereiten, ihr Land zu verlassen: In Simbabwe sind dies demnach rund 7 Prozent der Befragten, in Madagaskar gerade einmal 0,1 Prozent.

Über die Hälfte in Sierra Leone, kaum jemand in Tansania

Antwort auf die Frage: Haben Sie bereits in Erwägung gezogen, Ihr Land zu verlassen? (Länderauswahl)
Ja
Ein wenig
Nein

Fragezeichen bei der Aussagekraft: Die Umfrageergebnisse zur Migrationsabsicht in Afrika variieren stark. In gewissen Ländern liegen die Resultate je nach Umfrage so weit auseinander, dass hinter deren Aussagekraft zumindest ein Fragezeichen zu setzen ist. Beispielsweise hatten laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew im Jahr 2018 42 Prozent der Ghanaer die Absicht, in den nächsten fünf Jahren auszuwandern. Zur selben Zeit kam eine Afrobarometer-Umfrage zum Schluss, dass sich nur 3 Prozent der Ghanaer tatsächlich darauf vorbereiten, das Land zu verlassen. Vieles hängt dabei offenbar von der konkreten Fragestellung ab: Die Frage, ob sie das Land verlassen würden, «wenn sie die Möglichkeit dazu hätten», bejahten 2021 in einer Umfrage in Nigeria satte 73 Prozent der Befragten. Bei Afrobarometer zielt eine Frage in dieselbe Richtung, ist aber zurückhaltender formuliert («Haben Sie bereits in Erwägung gezogen, Ihr Land zu verlassen?»). Prompt sinkt der Ja-Anteil hier auf «nur» einen Drittel.

Wer sind jene, die gehen wollen?

Junge Männer aus der Stadt: Es sind nicht die Ärmsten, die Afrika verlassen wollen. Andere Faktoren beeinflussen den Abwanderungswunsch laut der Afrobarometer-Studie weit stärker: Männer wollen eher auswandern als Frauen, Menschen aus der Stadt eher als solche, die auf dem Land wohnen, und jüngere Personen eher als ältere.

Emigrieren? Vor allem für afrikanische Uni-Absolventen ein Thema

Antwort auf die Frage: Haben Sie bereits in Erwägung gezogen, Ihr Land zu verlassen?
Ja
Ein wenig

Je gebildeter, desto auswanderungswilliger: Besonders gross sind die Unterschiede, wenn man den jeweiligen Bildungsstand der Befragten berücksichtigt. Unter jenen Afrikanerinnen und Afrikanern, die einen tertiären Schulabschluss haben, sagten gegenüber Afrobarometer über die Hälfte, dass sie in Erwägung zögen, ihr Land zu verlassen. Bei Menschen ohne Schulabschluss lag dieser Anteil bei weniger als einem Viertel. Dieser Ausbildungsfaktor widerspiegelt sich auch in der afrikanischen Diaspora. Gemäss einer Pew-Studie von 2018 liegt der Anteil der Hochschulabsolventen bei afrikanischen Migranten in Frankreich, Grossbritannien und den USA nicht nur deutlich höher als in ihren Heimatländern, sondern gar über jenem der Einheimischen.

Wie viele Afrikaner träumen von Europa?

Afrika als Ziel: Europa ist für jene Afrikaner, die migrieren möchten, ein wichtiges Ziel – aber nicht das wichtigste. Laut Afrobarometer-Umfrage wollen 36 Prozent der Afrikaner, die einen Wegzug in Erwägung ziehen, auf dem Kontinent bleiben. 27 Prozent geben Europa als primäres Ziel an, vor Nordamerika (22 Prozent).

Zuerst Afrika, dann Europa

Bevorzugte Destination jener Afrikaner, die angeben, einen Wegzug in Erwägung zu ziehen

In den Süden und in den Norden: Auch hier sind die länderspezifischen Unterschiede ausgeprägt. In Malawi und Simbabwe etwa möchten drei von vier Personen, die ihr Land verlassen wollen, in Afrika bleiben. Viele von ihnen dürften auf eine Zukunft in Südafrika schielen. In Ghana und Côte d’Ivoire hingegen hegen rund zwei Drittel der entsprechenden Gruppe den Wunsch, nach Europa oder Nordamerika auszuwandern.

In Malawi will man vor allem gegen Süden migrieren

Bevorzugte Destination jener, die ihr Land verlassen möchten
Innerhalb von Afrika
Europa
Nordamerika
Rest der Welt

Dubai vor Deutschland: Etwas genauer ist die jüngste Umfrage, die zu den Migrationsabsichten in Nigeria durchgeführt wurde. Demnach zieht es dort die meisten Menschen in die USA, nach Grossbritannien oder Kanada. Danach folgen mit Dubai, Saudiarabien und China nichtwestliche Destinationen. Kontinentaleuropäische Länder sind als Migrationsziele deutlich weniger beliebt.

Die Nigerianer bevorzugen anglophone Destinationen

Bevorzugtes Migrationsziel in Nigeria

Wird die Migration Richtung Europa künftig zunehmen?

Der Trend zeigt nach oben: Die Migration innerhalb Afrikas und jene von Afrika nach Europa hat zugenommen. Laut IOM betrug das Gesamtwachstum der Migration auf dem Kontinent in den letzten zwanzig Jahren 76 Prozent, das ist mehr als in jeder anderen Weltregion. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen. In welchem Ausmass das passiert, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Dazu gehören unter anderem die wirtschaftliche Entwicklung vor Ort, die Sicherheitslage, die Folgen des Klimawandels sowie der Umgang mit dem starken Bevölkerungswachstum auf dem Kontinent.

Immer mehr afrikanische Fachkräfte: Wie viele Afrikaner nach Europa kommen, wird überdies von der europäischen Migrationspolitik abhängen. Das gilt zum einen mit Blick auf die Eindämmung der Migration über das Mittelmeer. Mehr noch gilt dies inzwischen aber mit Blick auf die legale Arbeitsmigration aus Afrika. In den letzten Jahren haben einige europäische Länder ihre Bemühungen um afrikanische Fachkräfte intensiviert. Schon heute reisen deutlich mehr Afrikanerinnen und Afrikaner mit einem fixen Arbeitsvertrag oder einem Studienplatz nach Europa als mit der Absicht, einen Asylantrag zu stellen. Die gefährliche Migration übers Mittelmeer hat deshalb im Vergleich zur Gesamtmigration zwischen Afrika und Europa an Bedeutung verloren.

Der britische Arbeitsmarkt wird afrikanischer

Die Top-10-Herkunftsländer von Empfängern eines britischen Arbeitsvisums im Jahr 2022 (in Tausend)

Global Britain: Ein ausgeprägtes Beispiel dieser Entwicklung ist Grossbritannien. Hier übertraf die Zahl der Arbeitsvisa, die 2022 Afrikanerinnen und Afrikanern gewährt wurde, die Zahl der afrikanischen Asylbewerber um ein Hundertfaches. Das zeigt etwa der Fall Nigerias: Im Jahr 2022 erhielten 50 000 Nigerianer britische Arbeitsvisa und 125 000 Nigerianer britische Studentenvisa. Derweil belief sich die Zahl der Asylanträge von Nigerianern in Grossbritannien in derselben Zeitspanne auf 760.

Migration Hump: Ein Hauptgrund, weshalb die Migration in und aus Afrika weiter zunehmen dürfte, ist der sogenannte Migrationsbuckel («Migration Hump»). Dessen Logik wird in Europa häufig missverstanden oder verdrängt – wohl auch deshalb, weil sie für viele eine unbequeme Wahrheit darstellt. Sie besagt, dass mehr Entwicklung und steigende Einkommen in einer ersten Phase nicht zu weniger, sondern zu mehr Migration führt. Der Grund: In sehr armen Ländern fehlt den Menschen schlicht das Geld, um die Migration finanzieren zu können. Ein Rückgang der Migration findet erst wieder statt, wenn ein Land ein deutlich höheres Entwicklungsniveau erreicht hat. Mit anderen Worten: In vielen afrikanischen Staaten, in denen das Einkommensniveau steigt, dürfte auch die Zahl jener steigen, die ihr Land nicht nur verlassen möchten, sondern es tatsächlich auch tun.

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