Gastkommentar

Coronavirus: Vergleiche sind wichtig

Wir reagieren auf Schockrisiken ganz anders als auf gewohnte und zeitlich verteilte Risiken. Wir sollten zu einer realistischen Risikoeinschätzung kommen.

Margit Osterloh und Bruno S. Frey
Drucken
Die gesundheitspolitischen Massnahmen müssen verhältnismässig sein.

Die gesundheitspolitischen Massnahmen müssen verhältnismässig sein.

Peter Kneffel / dpa

In Italien gab es 631 Tote durch das Coronavirus (Stand 11. 3. 20). Das ist schlimm. Aber im Winter 2016/2017 wurden nicht weniger als 25 000 Grippetote registriert, davon 19 400 im Alter von über 65 Jahren. Warum wurden damals die Landesgrenzen nicht geschlossen? In der Schweiz gibt es bis jetzt 4 Tote durch das Coronavirus (Stand 11. 3. 20). Im Jahr 2017 gab es 800 bis 1000 der Grippe zugeschriebene Todesfälle. Warum wurden damals Grossveranstaltungen, Konzerte und Gottesdienste nicht abgesagt?

Die Antwort ist, dass wir auf Schockrisiken anders reagieren als auf gewohnte und zeitlich verteilte Risiken. So nehmen wir nicht nur die jährlich Tausenden Grippetoten mit erstaunlicher Gelassenheit hin. Wir negieren auch die rund 350 Menschen, die jährlich auf den Strassen Deutschlands sterben, weil Autofahrer auf ihre Handys starren, anstatt auf den Verkehr zu achten. Bei Schockrisiken hingegen werden Ängste mobilisiert, welche mehr Schaden anrichten können als das auslösende Schockereignis. So hat der Risikoforscher Gerd Gigerenzer errechnet, dass in den Wochen nach 9/11 die Amerikaner vom Fliegen auf das Autofahren ausgewichen sind, dadurch aber etwa 1600 mehr Verkehrstote gezählt wurden.

Ähnliches kann uns heute mit der Angst vor dem neuen Coronavirus passieren: Die Menschen steigen vom öV auf Autos um, die Nachfrage nach Mietautos boomt. Es ist möglich, dass es dadurch mehr Verkehrstote als Corona-Opfer geben wird. Die Menschen spenden aus Angst weniger Blut. Die Tafeln für Arme erleben einen Einbruch, weil weniger Lebensmittel zur Verfügung gestellt werden, die gehortet werden. Wir gehen einer Weltwirtschaftskrise entgegen, verursacht durch Unterbrechung der Lieferketten oder den Einbruch des Fremdenverkehrs in Ländern wie Italien, wo der Tourismus 13 Prozent des Bruttoinlandproduktes ausmacht. Das könnte im Vergleich zum relativ geringen Risiko, am Coronavirus zu sterben, höhere Sterberisiken für die Armen erzeugen. Arme, die sich – wie heute schon in den USA – nicht mehr leisten können, zum Arzt zu gehen.

Was folgt daraus? Wir sollten zu einer realistischen Risikoeinschätzung kommen. Das geht am besten, indem die neuen, noch unbekannten Risiken mit den aus der Vergangenheit bekannten verglichen werden. Dabei muss insbesondere mit «normalen» Grippewellen verglichen werden. Die Medien sollten die beinahe stündlichen neuen Corona-Meldungen nicht ohne entsprechende Vergleiche mit den Todesfällen bei früheren Epidemien veröffentlichen. Sie sollten vergleichend auf unnötige Todesfälle durch den Strassenverkehr oder ungesunde Lebensweise hinweisen. Solche Zahlen entlasten Politiker, die derzeit unter Druck stehen, ihre Tatkraft beweisen zu müssen. Stattdessen sollte es ihre erste Pflicht sein, durch Vergleiche Angst zu reduzieren und Panik zu vermeiden.

In der Schweiz wurde diese Aufgabe bisher vergleichsweise gut gelöst. Schweizer Politikerinnen und Politiker sollten sich auf keinen Fall in eine Aufgeregtheitsspirale treiben lassen.

Margit Osterloh und Bruno S. Frey sind ständige Gastprofessoren an der Universität Basel und Forschungsdirektoren des Center for Research in Economics, Management and the Arts (Crema), Zürich.