Gastkommentar

Ohne Feinde geht gar nichts – kleines Einmaleins autokratischer Herrschaft

«Grösste Führer aller Zeiten» gibt es in zahlreichen Ländern. Das Schema ihrer Machtausübung gleicht sich: «demokratische» Wahl; Demontage der Institutionen; Abwehr böser «Feinde»; Kult der Nation, der Toten und des Militärs; Idolatrie und Selbstbereicherung, Nepotismus und Korruption. Der Westen muss immun bleiben.

Nicolas Hayoz
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Putin, der oberste Verteidiger des Vaterlandes. (Bild: Alexei Nikolsky / AP)

Putin, der oberste Verteidiger des Vaterlandes. (Bild: Alexei Nikolsky / AP)

Autokraten erkennt man daran, dass sie die Macht nicht mehr aus den Händen geben wollen. Ob sie durch Schläue, List, Putsch, Wahl oder Beziehungen an die Spitze des Staates gekommen sind: Wenn sie einmal oben sind, dann tun sie alles, um die Macht zu behalten. Macht als lebenslanger Besitz! Was haben politische Leader wie Putin, Erdogan, Xi Jinping oder der bedrängte Maduro gemeinsam? Ganz offensichtlich die Tatsache, dass sie, einmal am Ruder, alle Möglichkeiten und Ressourcen ausnutzen, um ihre Macht noch stärker, umfassender und unangreifbarer zu machen. Diesen Potentaten ist es gelungen, die politischen Institutionen ihres Landes so umzugestalten, dass sie ihre Ambitionen auf ein persönliches Herrschaftssystem nicht weiter behindern. Kein Bürger, kein Richter, kein Gesetz und keine Opposition, die sich in den Weg stellen würde. Politische Langlebigkeit ist, was Autokraten anstreben.

Putin beispielsweise ist seit über achtzehn Jahren an der Macht und wird voraussichtlich weitere sechs Jahre im Amt bleiben. Vielleicht wird er eines Tages als Präsident auf Lebzeiten in hohem Alter sterben. Putins Herrschaftsdauer könnte dann auch diejenige von Autokraten in einigen postsowjetischen Ländern übertreffen, vor allem in Zentralasien, wo Diktatoren teilweise schon über 25 Jahre regieren. Diktatoren müssen ständig auf der Hut sein vor jenen, die ihnen nach Leib und Leben trachten, und so sichern sie sich ab gegen alle möglichen und unmöglichen Feinde und Rivalen, umgeben sich mit repressiven Sicherheitsapparaten. Irgendwann aber müssen sie einen Nachfolger auftreiben, dem sie vertrauen können und der sie und ihren Reichtum schützen wird, wenn sie eines Tages nicht mehr in der Lage sind, Herrschaft über alle und alles auszuüben.

Autokraten und ihr Volk

Putin hat mit seinem personalisierten Herrschaftssystem die politische Langlebigkeit gewissermassen «programmiert». Er hat sich unabhängig gemacht von den politischen Institutionen, obwohl er das Gegenteil behauptet. Eben davon träumen und daran arbeiten auch einige politische Führer innerhalb und ausserhalb der EU. Putins Regime wird ja auch deshalb von vielen autoritätsgläubigen Menschen im Westen bewundert, weil es Machtwille und Machtausübung in einer Weise vereint, wie es dies sonst in keiner Demokratie gibt. Dazu bedienen sich Potentaten nicht nur harter, sondern auch weicherer Formen von Gewalt, wie der Propaganda und der Medienkontrolle, weshalb ihre Staaten auch als «Informationsautokratien» (Treisman) bezeichnet werden können. Dass solche Gebilde auch an ihr Ende kommen, zeigt gegenwärtig der Fall von Venezuela, wo die Lügengebäude der Regierung den wirtschaftlichen Kollaps nicht mehr wegzureden vermögen. Wenn offenbar wird, dass der Kaiser nackt ist, dann nützen auch die schönsten Feindbilder nichts mehr.

Europa wird sich gegen aussen wie gegen innen in Zukunft vermehrt gegen autoritäre und illiberale Anfeindungen zur Wehr setzen müssen.

Moderne personalisierte Autokratien sind darum auch folgerichtig obsessiv auf die Beobachtung ihrer Popularität mittels Umfragen fixiert. Aufmerksam werden steigende oder fallende Zustimmungskurven studiert. Was denkt das «russische Volk» gerade, womit wäre es zufriedenzustellen? Dabei hat das Volk eigentlich gar nichts zu sagen, weil es keinerlei Stimme hat – in Parlamenten, Parteien, Verbänden, die dem allgemeinen Willen Ausdruck verleihen könnten.

Auch dies verbindet «moderne» Alleinherrscher: dass sie ihr persönliches Herrschaftsmodell als «Volkswille» kaschieren und als alternativlos präsentieren. Wer genau weiss, wohin die Reise geht, hält nichts von abweichenden Meinungen. Zum grundlegenden Inventar jeder Autokratie gehören Feindbilder, die akute Bedrohung von aussen und von innen. Die Abwehr der stets drohenden Gefahr legitimiert den Potentaten, die zu seinem politischen und physischen Überleben notwendige repressive Ordnung zu schaffen. Sie sind der Garant der von ihm selbst geschaffenen Fiktion einer völlig geeinten Nation. Gerne lassen sie Diktatoren als Retter in Krise und Not feiern, aber ohne den von ihnen verordneten permanenten Ausnahmezustand brauchte es ihre autoritäre Führung gar nicht.

Die harmonische, konfliktlose nationale Gesellschaft ist das, was Autokraten verkünden. Folgerichtig darf das, was die moderne Gesellschaft und ihre offene politische Verfasstheit auszeichnet, konkret ihre Pluralität und Konfliktfähigkeit, nicht existieren. Auch hierin sind sich Putin und seine vielen Nachahmer und Bewunderer einig: in der Ablehnung westlicher liberaler Werte und all derer, die diese verteidigen, der politischen Eliten westlicher Demokratien.

Systemimmanente Korruption

Es gehört zu den Überlebenslügen solcher Regime zu verkünden, dass die unter ihrer Herrschaft lebenden Menschen gar keine rechtsstaatliche Demokratie wollen. Die Proteste in Autokratien gegen Machtmissbrauch und Korruption sprechen jedoch eine andere Sprache. Ihre oft gewaltsame Unterdrückung zeugt von der Pervertierung des Rechtsstaates: Nicht der Bürger muss vor dem Staat, sondern das Regime vor dem Volk geschützt werden. Nur im Schutz staatlicher Repression war und ist es für politische Eliten insbesondere in postsozialistischen Staaten möglich, sich im grossen Stil zu bereichern und den Staat als Privateigentum zu betrachten.

Die Akteure der Zivilgesellschaft werden nicht müde, auf die Kernlogik des Funktionierens von personalisierten Autokratien aufmerksam zu machen. Es geht darum, dass sich solche Regime nur über Korruption reproduzieren. Autokraten können nur überleben, solange sie sich die Loyalität derjenigen Gruppen zu sichern vermögen, von deren Unterstützung sie abhängen. Die Bindung an das Regime kann über Klientelismus, über Patronage oder über andere Formen der Vorteilsgewährung laufen. Nicht auf das «Volk» kommt es an, sondern es sind die Gruppen, Clans, Bürokratien, Truppen, die Autokraten an der Macht halten.

Auch wenn manch ein autoritäres Staatsgebilde nach aussen hin glänzt: In den sich populistisch und «volksnah» gebenden Autokraten mit ihren antiwestlichen Diskursen zeigen sich keine wirklichen Alternativen zum Westen oder zu Europa. Die Ordnung der Macht dient den Eliten einzig dazu, Strukturen aufrechtzuerhalten, die es ihnen erlaubt, den Staat auszuplündern, dessen Reichtum oft nur auf Rohstoffen beruht. Korruption und Patronage sind dysfunktional in machtteilig organisierten staatlichen Institutionen und einem meritokratisch funktionierenden Wirtschaftssystem, wie wir beides im Westen kennen.

Mit der zunehmenden Sichtbarkeit der Ineffizienz und der Krisenanfälligkeit autokratischer Regime bekommt auch der Grundpfeiler ihrer Legitimation, die Stabilität, immer mehr Risse. Gerade am Beispiel Russland, dem «Musterland» einer als stabil geltenden Autokratie, lässt sich ersehen, wohin die situativ unstete Politik Putins und seiner Herrschaftsclique geführt hat: in Stagnation, in noch mehr Repression und in die Sackgasse der «Festung Russland».

Europa muss wehrhaft bleiben

Der westlichen freiheitlichen, am Bürger orientierten Politik von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung stellt sich die Alternative des von oben verordneten Zwanges entgegen. Die pathetische Apologie von Vaterland, Führerschaft und Nation, als deren Verteidiger Autokraten sich geben, verdeckt nur die tief reaktionäre Abneigung gegenüber den Errungenschaften der modernen offenen Gesellschaft und ihren freiheitlichen Institutionen. Das Europa der EU müsste eigentlich ohne Wenn und Aber für dieses liberale Projekt stehen, doch die Dinge beginnen zu erodieren. Europa wird sich gegen aussen wie gegen innen in Zukunft vermehrt gegen autoritäre und illiberale Anfeindungen zur Wehr setzen müssen.

Um hier bestehen zu können, braucht es Leadership, und zwar nicht jene, die sogenannte «starke Männer» vornehmlich in Osteuropa ausüben. Es braucht ein gemeinsames Engagement für europäische Werte und Institutionen, eine Politik, die auch «rote Linien» aufzuzeigen und grosse wie kleine Autokraten in ihre Schranken zu weisen vermag. Potentaten wissen genau um die Anziehungskraft des von ihnen verachteten «Westens», die Gefahr, die ihrer Macht durch den Atem der Freiheit droht. Europa aber wird entschiedener als bisher zeigen müssen, dass eine rechtsstaatlich verfasste liberale Demokratie durchaus mit Wohlstand und Sicherheit für alle zusammengeht, im Gegensatz zum autokratischen Modell, wo einige wenige mittels Korruption und Repression obszöne Reichtümer anhäufen.

Nicolas Hayoz lehrt Politologie an der Universität Freiburg i. Üe. Im Zentrum seiner Forschungen stehen die politischen Entwicklungen in Osteuropa, v. a. im postsowjetischen Raum, in Russland, der Ukraine und im südlichen Kaukasus.