Die Russen erobern den Gotthard

Der Gotthard wird im Herbst 1799 zum europäischen Schlachtfeld. Tausende russische Soldaten unter General Suworow sterben im Kampf gegen die Franzosen. Das kolossale Kriegerdenkmal in der Schöllenenschlucht befremdet bis heute.

Helmut Stalder
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Steigt man durch die Schöllenen bei Göschenen, ergriffen vom Gefühl, dass hier die Wiege der Schweiz sei, kommt es zu einer gehörigen Irritation. Bei der Kurve vor der Teufelsbrücke prangt ein zwölf Meter hohes, fremdländisches Kreuz an der Wand, eingemeisselt in den Gotthardgranit. Kyrillische Lettern verkünden, das Denkmal sei gewidmet «den heldenmutigen Mitkämpfern des Generalissimus Feldmarschall Graf Suworow-Rimniski, Fürst Italiski, die bei der Überschreitung der Alpen im Jahre 1799 gefallen sind». Damals tobte der Zweite Koalitionskrieg, in dem Russland, Österreich und England gegen Frankreich um die Vorherrschaft in Europa kämpften. Der von seinen Soldaten verehrte russische General Alexander Suworow hatte soeben die Franzosen aus der Poebene vertrieben. Nun erhält er den Befehl, die Alpen zu überqueren, die französischen Besatzer aus der Innerschweiz zu drängen, sich bei Zürich mit der russisch-österreichischen Streitmacht zu vereinen und dort die Franzosen zu schlagen.

Gewaltsmarsch ohne Wirkung


Am 21. September 1799 bricht der 70-jährige Suworow von Taverne auf, mit mehr als 22 000 Mann, 5000 Pferden und 25 auf Maultiere verladenen Geschützen. Nach drei Tagen erreicht die Armee Airolo und steigt zum Gotthard auf. In der Tremola jedoch liegen die Franzosen verschanzt. In verlustreichen Gefechten kämpfen sich die Russen bergauf zum Pass und weiter nach Andermatt. In der Schöllenen, wo die Franzosen den Ausgang des Urner Lochs und die Teufelsbrücke blockieren, kommt es am 25. September zu einem furchtbaren Gemetzel, bis sich die Russen den Durchgang erzwingen. Zu Tausenden liegen danach tote Soldaten in den Felsen, 700 allein in der Schöllenen. Stark dezimiert erreicht das Russenheer den Urnersee. Aber die Franzosen haben alle Schiffe requiriert, die Russen stecken in der Sackgasse.

Das russische Kriegerdenkmal in der Schöllenen wurde hundert Jahre nach der Schlacht von 1799 in den Fels gehauen. (Bild: E. T. Studhalter / Reuters)

Das russische Kriegerdenkmal in der Schöllenen wurde hundert Jahre nach der Schlacht von 1799 in den Fels gehauen. (Bild: E. T. Studhalter / Reuters)

Nun zeigt sich Suworows Geschick im Gelände. Er befiehlt seine Armee über den Kinzigpass ins Muotatal, um von dort nach Schwyz auszubrechen und so nach Zürich zu gelangen. Im Quartier im Kloster St. Josef in Muotatal erreicht ihn jedoch die Nachricht, dass die Verbündeten bei Zürich geschlagen seien. Damit ist der Plan zur Vereinigung der Truppen gescheitert. Wieder sitzt das Russenheer in der Falle, denn die Franzosen blockieren den Talausgang. Suworow will nun über den Pragelpass nach Glarus vorstossen und in der Linthebene die Verbindung mit den Österreichern suchen. Im Klöntal drängen die Russen die Franzosen zurück, der Ausbruch aus dem Glarnerland aber misslingt.

Jetzt wird der Alpenzug zur Flucht. Das erschöpfte Russenheer steigt über den 2407 Meter hohen Panixerpass ins Vorderrheintal und weiter nach Chur, wo es sich endlich verpflegen kann. Über Luzisteig verlässt die Armee am 11. Oktober die Schweiz Richtung Russland. 7000 Soldaten sind gestorben, von den überlebenden 15 000 sind noch 10 000 Mann kampffähig. Der Alpenzug führte in zwanzig Tagen über sieben Pässe, was noch keine Armee getan hatte. Die Operation war taktisch brillant, militärisch wirkungslos und menschlich eine Katastrophe. Trotzdem ging sie als heroische Tat in die Geschichte ein und machte Suworow zur Legende.

Heroisierung des russischen Alpenzugs auf einem Mosaik am Suworow-Museum in St. Petersburg. (Bild: Peter Widmann / Imago)

Heroisierung des russischen Alpenzugs auf einem Mosaik am Suworow-Museum in St. Petersburg. (Bild: Peter Widmann / Imago)

Russen im Herzen der Schweiz

An die Toten erinnert das monumentale Kreuz in der Schöllenen. Es wurde im September 1898 enthüllt, zum 100. Jahrestag der Schlacht von 1799. Schleierhaft bleibt, was sich der Bundesrat damals dabei dachte, ein Kriegerdenkmal einer fremden Macht an diesem symbolträchtigen Ort der Eidgenossenschaft zu bewilligen. Initiant war der russische Fürst Serge Galizin, der es auf eigene Kosten errichten und sich damit am Zarenhof wichtig machen wollte.

1883 stimmte der Bundesrat grundsätzlich zu, machte aber Gestaltung und Inschrift von einer weiteren Bewilligung abhängig. In Uri waren die Meinungen gespalten. Suworow galt als Befreier von der französischen Besatzung, was dem Plan Sympathien einbrachte. Auch das Bewusstsein, dass man Schauplatz der Weltgeschichte gewesen war, dürfte mitgespielt haben. Der Korporationsrat Urseren als Grundbesitzer begründete seine Zusage mit dem «Andenken an die gefallenen Soldaten» und dem Hinweis, «dass zufolge dieses Krieges die Neutralität der Schweiz entstanden ist, deren Hauptförderer auf dem Wiener-Congress der Kaiser von Russland Alexander I. war». Die Kantonsregierung hingegen gab zu bedenken, «dass wir uns mit der Errichtung eines russischen Denkmals im Gebiete der Gotthardfestung und im Herzen unseres schweizerischen Vaterlandes als Erinnerung an die Ereignisse der damaligen so unheilvollen Invasion fremder Mächte nicht befreunden können».

Postume Verehrung: die russischen Truppen bei der Alpenquerung auf einem Historiengemälde von 1899. (Bild: WHA / United Archives)

Postume Verehrung: die russischen Truppen bei der Alpenquerung auf einem Historiengemälde von 1899. (Bild: WHA / United Archives)

Dem Bundesrat blieb nicht verborgen, dass das Denkmal eine problematische Seite hatte. Einen Entwurf, der den russischen Alpenzug heroisierte, lehnte er ab, denn ein derartiges Monument wäre geeignet, «eine flagrante und fortgesetzte Verletzung der schweizerischen Neutralität und Staatshoheit zu verherrlichen». Dann modifizierten die Initianten die Zweckbestimmung, so dass der Bundesrat zustimmen konnte. Es handle sich, heisst es im Ratsprotokoll, um eine «Erinnerungstafel an die Opfer», also um ein Totenmal auf einem Schlachtfeld, wie es international Brauch sei.

Ein Zeichen nationaler Schmach

In der Presse blieb die Begeisterung aus. Einige Zeitungen sahen das Denkmal als Erinnerung an die Schmach der Besatzungszeit. «La Revue» fand 1894 in mehreren Artikeln, es sei nicht Aufgabe der Schweiz, die Erinnerung an diese Demütigung zu verewigen, zudem seien Suworows Truppen Soldaten der Reaktion gewesen. Einhellig abgelehnt wurde indes Frankreichs Forderung nach einem analogen Denkmal für die eigenen Gefallenen, mit dem es der monumentalen Okkupation der Schöllenen durch die Russen entgegentreten wollte. Die NZZ schilderte am 30. Januar 1894, wie die französischen Besatzer gewütet hätten, und befand: «Angesichts solcher Thatsachen verbietet uns die nationale Selbstachtung, die der Schweiz zugefügten Leiden nachträglich durch ein französisches Denkmal auf dem Gotthard zu verherrlichen.» Dem russischen Drängen hatte der Bundesrat nachgegeben. Die Franzosen hingegen liess er abblitzen, denn es würde dem Ansehen der Schweiz schaden, wenn sie die Erinnerung an Ereignisse frisch hielte, «welche mit der Invasion des Landes durch fremde Armeen zusammenhängen».

General Suworow mit seiner Armee auf dem Sankt Gotthard, Gemälde von 1917. (Bild: Keystone / Archive)

General Suworow mit seiner Armee auf dem Sankt Gotthard, Gemälde von 1917. (Bild: Keystone / Archive)

Trotz Bedenken setzte sich Fürst Galizin mit seinem Plan weitgehend durch. Statt eine schlichte Erinnerungstafel anzubringen, wurden auf einer Fläche von 24 mal 24 Metern das Kreuz und eine Kalotte aus dem Fels gehauen und mit bronzenem Beiwerk und einer Plattform versehen. Zur Einweihung fand man dann eine Formel, die das Russenkreuz mit der Schweiz als neutralem, souveränem Staat versöhnen sollte. So sagte der Kommandant der Gotthardfestung, Oberstdivisionär Heinrich Segesser, an der Zeremonie: «Die Russen können sicher sein, dass wir dieses Kreuz bewachen werden und dass niemand dieses Heiligtum zu stören vermag, weil niemand mehr im Kriege über den Gotthard ziehen wird. (. . .) Die Gotthardkanonen, welche unser Vaterland verteidigen, werden auch das russische Kreuz beschützen.»

Sowjetisches Territorium

Unverrückbar stand nun das Kreuz in der Schöllenen, dem nagenden Zahn der Zeit ausgesetzt. In den 1980er Jahren wurde die Reparatur fällig. Die Steine der Brüstung wackelten, die Lettern drohten abzufallen. Jahrzehntelang hatte es niemanden gekümmert, wem die Fläche eigentlich gehört. 1982 stellten die Urner Geometer fest, dass das Kreuz im Grundbuch fehlte, und machten sich auf die Suche nach dem Eigentümer. Die Urner gingen davon aus, dass sie den Felsen im Baurecht zur Verfügung gestellt hatten, dass er also im Besitz der Korporation Urseren geblieben war, auch wenn die Sowjetunion in den 1950er Jahren Unterhaltsarbeiten bezahlt hatte. Die sowjetische Botschaft erhob jedoch Besitzansprüche. Ein klärendes Dokument fehlte zunächst. Doch dann kam Post aus Moskau.

Im Kreml war der Entscheid des Korporationsrates Urseren vom 13. Oktober 1893 gefunden worden. Er hatte «einstimmig beschlossen, das benöthigte Terrain unentgeltlich den Russen abzutreten». Welch traumatische Erkenntnis mitten im Kalten Krieg: Die Sowjets als Rechtsnachfolger des Zaren besitzen mitten in der Gotthardfestung Grund und Boden. Es blieb nur ein schwacher Trost. Moskau fand, das Kreuz sei auch ein helvetisches Monument und die gut 100 000 Franken teure Restauration also Aufgabe der Schweiz. Aber das Bundesamt für Kulturpflege hatte nun ein starkes Argument: «Wir können eine Renovation unterstützen, doch zur Hauptsache ist sie Sache des Eigentümers.»

Zeremonie zum 200. Jahrestag mit Bundesrat Adolf Ogi (2. v. r.) und Russlands Vizeminister Wladimir Issakow (r.), 24. September 1999. (Bild: Dani Tischler / Keystone)

Zeremonie zum 200. Jahrestag mit Bundesrat Adolf Ogi (2. v. r.) und Russlands Vizeminister Wladimir Issakow (r.), 24. September 1999. (Bild: Dani Tischler / Keystone)

Späte Versöhnung

1999, als das 200-Jahr-Jubiläum anstand, war man versöhnlicher gestimmt. Die UdSSR war untergegangen, der Kalte Krieg war beendet. Russische und schweizerische Institutionen vereinigten sich nun im Suworow-Gedenken mit Feiern und Ausstellungen entlang der Route. Kommen russische Delegationen in die Schweiz, gehört seither das Kreuz zum Programm. Jahr für Jahr werden im September dort Gedenkfeiern abgehalten. 2009 besuchten gar Präsident Dmitri Medwedew und Bundespräsident Hans-Rudolf Merz das Kreuz. Inzwischen ist auch die alte Forderung des Kriegsgegners nach einem eigenen Gedenkort erfüllt. 1999 richteten Freunde Frankreichs als Gegenstück zum Russenkreuz bei der Gaststätte bei der Teufelsbrücke den «Franzosenplatz» ein, bestehend aus einem banalen Strassenschild und dem Abklatsch eines Historiengemäldes der Schlacht um die Teufelsbrücke. So ist nach 200 Jahren der Neutralität Genüge getan, und die Toten können in Frieden ruhen.