Der berüchtigte Nazi-Arzt auf dem Balkon

Der Kriegsverbrecher Josef Mengele nutzte die Schweiz zeitweise als Stützpunkt für Kontakte mit seiner Familie in Günzburg. Gefasst wurde er dennoch nicht.

Guido Koller
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Der Block 10 des Konzentrationslager Auschwitz, in welchem Josef Mengele als Lagerarzt wirkte. (Bild: Imago)

Der Block 10 des Konzentrationslager Auschwitz, in welchem Josef Mengele als Lagerarzt wirkte. (Bild: Imago)

Am 4. März 1961 holt der Holocaust die Zürcher Kantonspolizei ein. Der deutsche Journalist Günther Schwarberg informiert sie über einen Mann, den er auf dem Balkon der Wohnung von Martha Mengele gesehen hat. Grösse (1,75 Meter), Alter (etwa 50) und Statur (gedrungen) erinnern an Josef Mengele, den berüchtigten Lagerarzt von Auschwitz. Martha Mengele, dessen aus Montevideo in die Schweiz eingereiste Ehefrau, wohnt seit dem 28. Februar 1961 in Kloten. Die Polizei zieht ein Dispositiv für die Überwachung auf und bittet Bundesbern um Instruktionen. Aus Frankfurt wird ein Staatsanwalt mit Identifikationsmaterial eingeflogen.

Familie in Günzburg

Josef Mengele Deutscher Arzt des Nazi-Regimes. (Bild: PD)

Josef Mengele
Deutscher Arzt des Nazi-Regimes. (Bild: PD)

Josef Mengele ist in Panik. Die Israeli haben ein knappes Jahr zuvor Adolf Eichmann, den Koordinator des Holocausts, aus Buenos Aires entführt, um ihn in Jerusalem vor Gericht zu bringen. Und auch in der Bundesrepublik gibt es Ansätze, Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen. Gegen Mengele besteht seit 1959 ein Haftbefehl wegen des «dringenden Verdachts auf vollendeten und versuchten Mord». Mengele hat das von seiner Familie in Günzburg erfahren und die wiederum von der lokalen Polizei, die eigentlich seinen Aufenthaltsort hätte ermitteln sollen. Er versteckt sich in Brasilien und schickt Martha und ihren Sohn nach Europa. Bis zu diesem Zeitpunkt hat er sich sicher gefühlt.

Er steht zwar seit 1945 auf alliierten Listen von Kriegsverbrechern, konnte sich aber zunächst in Bayern verstecken und sich dann 1949 unter falschem Namen und mithilfe des «Kameradenwerks» sowie Reisepapieren des Roten Kreuzes über Genua nach Argentinien absetzen. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau will er 1956 die Witwe seines Bruders heiraten. Dafür benötigt er eine Geburtsurkunde. Er bekommt sie auf der deutschen Gesandtschaft in Buenos Aires zusammen mit einer Identitätskarte auf seinen richtigen Namen. Am 28. Juli 1958 heiratet er Martha in Nueva Helvecia, in der Nähe von Montevideo.

Schweigen in der Nachkriegszeit

Bei den deutschen Behörden kommt offenbar niemand auf die Idee, Mengeles Gesuch mit den alliierten Listen abzugleichen. Wahrscheinlich will man auch nicht: In der Nachkriegszeit sind im Auswärtigen Amt und bei den Justizbehörden noch zahlreiche ehemalige NSDAP-Mitglieder beschäftigt. Dies erklärt das Schweigen, auf das der deutsche Generalstaatsanwalt Fritz Bauer stösst, als er zu Beginn der 1960er Jahre in Frankfurt die Prozesse um Auschwitz koordiniert. Mengele «wird in Günzburg gedeckt», sagt er, «dort ist die Zeit stehengeblieben, die Stadt will ihre Vergangenheit nicht bewältigen». Er spannt die Presse ein und schickt Günther Schwarberg, Reporter beim «Stern», nach Zürich.

Am frühen Morgen des 8. März 1961 beobachten die von ihm informierten Polizisten, wie Martha Mengele und ein unbekannter Mann in einem Volkswagen mit Günzburger Nummer wegfahren. Kurze Zeit später trifft die Weisung aus Bern ein, Mengele in provisorische Auslieferungshaft zu nehmen, «falls es gelingen sollte, ihn zu ermitteln». Der Staatsanwalt kehrt jedoch unverrichteter Dinge nach Frankfurt zurück. Es ist nicht sicher, ob der Mann, den Schwarberg auf dem Balkon gesehen hat, Mengele war.

Der Historiker Sven Keller, der Mengeles Tagebuch eingesehen hat, kann den Besuch in Kloten nicht bestätigen. Er weist dem in Buenos Aires lebenden Kriegsverbrecher jedoch Skiferien in Engelberg nach, wo er 1956 seinen Sohn aus erster Ehe, seine baldige zweite Ehefrau Martha und deren Sohn getroffen hat. Ein Sohn bestätigt das Treffen.

Organisiert hat es Hans Sedlmaier, der Mittelsmann zur Familie in Günzburg. Josef Mengele hat schon 1948 auf seinen Erbteil an der elterlichen Landmaschinenfabrik verzichtet. Zu dem Arrangement gehört, dass die Familie ihn finanziell unterstützt; gut möglich, dass Sedlmaier ein Konto auf einer Schweizer Bank einrichtet. Franz Josef Strauss verspricht bei einem Besuch in Israel, das abzuklären; es gelingt ihm aber nicht.

Grausame Menschenversuche

Sedlmaier besorgt Mengeles Stiefsohn einen Platz in einem Internat in Montreux. Am 21. März 1961 ersucht Martha Mengele in Zürich um eine Aufenthaltsbewilligung, die im Juli 1961 aber definitiv abgelehnt wird. Sie zieht 1962 nach Meran in Südtirol. Am 2. Februar 1967 wird auch gegen Josef Mengele eine Einreisesperre verfügt; sehr zum Leidwesen von Simon Wiesenthal, dem «Nazi-Jäger». Er hat gehofft, dass der «KZ-Arzt», der in Auschwitz Selektionen vorgenommen und grausame Versuche an Menschen durchgeführt hatte, in der Schweiz verhaftet werden könne.

Der Bundesrat wehrt sich später gegen den Vorwurf, die Schweiz habe Josef Mengele entkommen lassen. Die Behörden hätten 1961 wiederholt in Frankfurt nachgefragt, «ob die Fahndung erwünscht sei». Erst im September hätten die deutschen Behörden das Fahndungsersuchen bestätigt und die notwendigen Angaben geliefert. Diese Straflosigkeit als Resultat von Verschweigen, Verdrängen und behördlichem Zögern ist für die überlebenden Opfer des Holocausts unerträglich. Mittlerweile setzt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag alles daran, dass sich solche Skandale nicht wiederholen können.

Postscriptum: Josef Mengele blieb bis zu seinem Tod unbehelligt. Er starb am 7. Februar 1979 in Brasilien.

Guido Koller ist Historiker und spezialisiert auf Zeitgeschichte.

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