Jake Burton Carpenter war ein Rebell mit Verstand – am Laax Open gedenken die Snowboarder des verstorbenen Erfinders ihres Sports

Carpenter beschäftigte knapp tausend Angestellte und soll ein Vermögen von 100 Millionen Dollar angehäuft haben. Doch der Aufstieg war steinig. Zuletzt wohnte er mit seiner Frau in einem Penthouse eines Zürcher Nobelhotels.

Ursina Haller
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Jake Burton Carpenter, aufgenommen 2017 in Zürich.

Jake Burton Carpenter, aufgenommen 2017 in Zürich.

Simon Tanner / NZZ

Wenn die weltbesten Snowboarder diese Woche am Laax Open durch die Halfpipe flippen und über Schanzen fliegen, soll in Graubünden die Sonne scheinen. Jake Burton Carpenter hätte das nicht unbedingt gewollt. Der Gründer von Europas grösstem Snowboardevent jubelte jeweils, wenn es einen Schneesturm gab, es ärgerte ihn nicht, wenn Wettkämpfe deshalb verschoben werden mussten. Er holte dann sein eigenes Brett hervor, stand frühmorgens mit den vierzig Jahre jüngeren Teilnehmern des Events bei den Gondeln an und surfte mit ihnen grinsend durch den Tiefschnee. Danach sagte er Sätze wie: «Dieses Gefühl, wenn du mit dem Brett durch den Powder gleitest, das ist einfach, das ist einfach . . .»

Jake Burton Carpenter fehlten manchmal die Worte, um zu beschreiben, was der Sport in ihm auslöst, den er mit erfunden und bis heute geprägt hat. Er wird die passende Formulierung nicht mehr finden. Vor zwei Monaten erlag der Snowboardvisionär im Alter von 65 Jahren einem Krebsleiden.

Der amerikanische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders schrieb nach Carpenters Tod auf Facebook: «Wir haben einen unserer grössten Unternehmer verloren. Jakes Engagement hat in Vermont Hunderte Stellen geschaffen, Zehntausende zu unseren Bergen gebracht und weltweit Millionen von Menschen Freude beschert.»

Freude am Spass

Auch die Fahrerinnen und Fahrer, die diese Woche am Weltcup in Laax an den Start gehen werden, trauerten. Der kanadische Slopestyle-Überflieger Mark McMorris nannte Carpenter einen Helden, die Schweizer Iouri Podladtchikov, Pat Burgener und Jan Scherrer bedankten sich in den sozialen Netzwerken bei ihm. Carpenter hat ihnen den Sport gegeben, den sie so lieben. Mit seinem Unternehmen Burton schuf er das Material und die Rahmenbedingungen dafür, dass Snowboarden zu einem populären, technischen Sport werden konnte. Vor allem aber hat Carpenter die Werte definiert, für die das Freestyle-Snowboarden bis heute steht. Bis zuletzt hat er sich in seinem Sport für den Erhalt von Spass und Brüderlichkeit eingesetzt.

Dabei dachte der Sohn eines Investmentbankers und einer Hausfrau zunächst vor allem an sein eigenes Glück, als er Mitte der 1970er Jahre in einer Garage im amerikanischen Gliedstaat Vermont an der Entwicklung des Snowboards tüftelte. Bei einer Ausfahrt mit dem Snurfer, einem in den 1960er Jahren erfundenen Brett ohne Schuhhalterung, war ihm eine Geschäftsidee gekommen. «Ich liebte es vom ersten Moment an und hatte sofort die Vision, dass daraus ein Sport werden kann. Und ich sah meine Chance, schnell reich zu werden», sagte Carpenter einst dem Magazin «Snowboarder».

Nach Abschluss des Wirtschaftsstudiums gründete er Burton, 1977 brachte das Unternehmen die erste Kleinserie von Snowboards auf den Markt. Heute ist sein zweiter Vorname nicht zu übersehen, sobald irgendwo Schnee liegt. Burton ist seit vierzig Jahren Marktführer, das Logo prangt auf Brettern, Kleidung und Schuhen. Carpenter beschäftigte knapp tausend Angestellte und soll ein Vermögen von 100 Millionen Dollar angehäuft haben. Zuletzt wohnte er mit seiner Frau Donna in einem Penthouse eines Zürcher Nobelhotels.

Doch der Aufstieg war steinig. Seine jungen Kunden waren in den 1980er Jahren auf amerikanischen Skipisten nicht willkommen, die Liftbetreiber untersagten Snowboardern den Zugang. Das ärgerte den begeisterten Surfer und veranlasste ihn dazu, seine Prioritäten zu verschieben. Damals sei ihm bewusst geworden, dass es wichtiger sei, sich für die Gemeinschaft der Snowboarder und die Entwicklung des Sports einzusetzen, statt reich zu werden, sagte er 2016.

Carpenter verstand das Snowboarden zunehmend als Gegenentwurf zum Skifahren, das er elitär fand. «Zu Beginn stachen wir heraus wie bunte Hunde. Wir hatten ein Board, keine Stöcke, keine Skischuhe. Ich glaube, wir waren Rebellen. Was wir taten, galt als respektlos», sagte er im vergangenen Jahr gegenüber der BBC. In seinem Heimgebiet in Vermont überredete er die Pistenbetreiber dennoch dazu, ihm und seinen Freunden ein Liftticket zu verkaufen. Später reiste er in den USA von Skigebiet zu Skigebiet und verhandelte über die Zulassung der Snowboarder.

Eigene Wettkampfserie lanciert

Jake Burton Carpenter war ein Rebell, aber er realisierte auch, dass er das Snowboarden einer breiteren Öffentlichkeit näherbringen musste, wenn er mit seinem Unternehmen Erfolg haben wollte. Lange bevor der Sport 1998 mit der Aufnahme ins olympische Programm zum Massenphänomen wurde, gründete er eine eigene Wettkampfserie. Diese bot Snowboardern in den USA und später auch in Europa, Japan oder Australien die Möglichkeit, sich vor Publikum zu messen. Gleichzeitig zelebrierte sie die Gemeinschaft und die Lebensart der Snowboarder.

Der Wettkampf, der diese Woche in Laax stattfindet, ist ein Überbleibsel davon. Bis 2016 zeichnete Burton verantwortlich für den Event, seither wirkt das Unternehmen als Werbepartner. Der ehemalige Snowboardprofi Reto Poltera, der in Laax für die sportliche Leitung zuständig ist und mit Carpenter befreundet war, sagt: «Das Laax Open ist immer noch so gestaltet, wie Jake sich einen Snowboardevent vorstellte.» Man wolle den Fahrern einen hochstehenden Wettkampf ermöglichen, es solle aber nicht alles auf Leistung ausgerichtet sein. Der Halfpipe-Wettbewerb vom Samstag etwa ist so organisiert, dass die Zuschauer tagsüber selber Snowboard fahren, abends am Nachtfinal bei Flutlicht den Profis zuschauen und später gemeinsam mit ihnen am Konzert feiern.

Den Spirit des Übervaters will man in Laax nicht vergessen. Derzeit entsteht an einer Wand der Talstation Murschetg ein riesiges Porträt von Burton Carpenter, ausserdem werden im Foyer bald ein Dutzend Snowboards ausgestellt, mit denen Carpenter im Schnee unterwegs war. Der Vater von drei Söhnen verbrachte jedes Jahr mindestens hundert Tage auf dem Brett. Lange Zeit hortete er sämtliche Modelle in seinem Haus in Vermont, so dass er jeden Tag ein anderes Snowboard testen konnte. Reto Poltera sagt: «Jake war besessen davon, das Material zu verbessern und an neuen Ideen zu tüfteln. Man konnte mit ihm stundenlang über eine Snowboardbindung sprechen.»

Ohne Jake Burton Carpenter wäre die rasche sportliche Entwicklung nicht möglich gewesen, die im Wettkampf-Snowboarden immer noch anhält. Seine Firma brachte die erste Freestyle-Bindung auf den Markt, setzte bei der Herstellung der Bretter auf Technologie aus der Skibranche oder erfand das Brett, mit dem man sowohl vorwärts- als auch rückwärtsfahren kann. Carpenter fühlte sich jedoch nicht verantwortlich dafür, dass sich die Profi-Snowboarder inzwischen mit vierfachen Überkopfsprüngen über Schanzen werfen. «Der sportliche Fortschritt ist den Fahrern zuzuschreiben. Niemand hat ihnen gesagt, dass sie das tun müssten», sagte er einmal.

Anders als andere Snowboardpioniere wehrte er sich nicht gegen die Wandlung der einstigen Subkultur zum Hochleistungssport. Er stand zwar der Kommerzialisierung seines Sports durch die Olympischen Spiele kritisch gegenüber, beteiligte sich aber mit der Ausstattung des amerikanischen Teams von Anfang an daran. Wenn die von seiner Firma gesponserten Fahrerinnen und Fahrer siegten, jubelte er. Am Rande der Olympischen Spiele unternahm er Ausfahrten mit ihnen oder mietete ein Haus, in dem man zusammen Billard spielte oder kochte. Spass und Brüderlichkeit sollten selbst an den Spielen nicht vergessen gehen.

Auch in seinem Unternehmen sorgte Carpenter dafür, dass alle regelmässig zum Snowboarden kamen. Wenn es in Vermont geschneit hatte, schrieb er eine Mail an seine Mitarbeitenden und forderte sie dazu auf, zur Liftstation statt zur Arbeit zu fahren. Er verstand seine Firma nicht als klassisches Wirtschaftsunternehmen, sondern wollte einen Familienbetrieb mit hohen sozialen Standards führen. So setzte er sich etwa zusammen mit seiner Frau Donna seit Jahren für die Förderung von Frauen ein. 45 Prozent der Führungskräfte bei Burton sind weiblich, das Unternehmen gewährt seinen Athletinnen einen sechsmonatigen bezahlten Mutterschaftsurlaub oder sponserte 2017 allen Mitarbeiterinnen die Reise an den Women’s March in Washington.

Vor Trump geflüchtet

Carpenter war ein politischer Mensch, und das gegenwärtige Klima in den USA unter Donald Trump entsprach ihm in keiner Weise. Voriges Jahr verlegte die Familie ihren Lebensmittelpunkt nach Zürich, «um dem Wahnsinn in den USA zu entfliehen», wie er auf seiner Website schrieb. Nun fuhr er, der sein Amt als CEO von Burton 2016 seiner Frau übergeben hatte, im Winter über die verschneiten Hänge des Hoch-Ybrig, im Sommer schwamm er bei der Seeüberquerung mit. Abends lud er Familie und Freunde in die Kronenhalle ein. Carpenter, der in einfachen Verhältnissen aufgewachsen war, genoss seinen Reichtum und liess andere daran teilhaben. In einem Interview sagte er einmal: «Mein Lifestyle ist der Wahnsinn. Niemand hat ein besseres Leben als ich.»

2011 wurde bei Carpenter Hodenkrebs diagnostiziert, vier Jahre später erkrankte er am seltenen Miller-Fisher-Syndrom. Die Nervenkrankheit lähmte den Körper binnen weniger Tage beinahe komplett. Er lag sechs Wochen auf der Intensivstation, eingesperrt im reglosen Körper, einzig die Hände konnte er bewegen. Geistig voll präsent, kritzelte er Hunderte Notizzettel voll mit Anweisungen und Botschaften an sein Umfeld.

Carpenter erholte sich von der Nervenkrankheit, aber Anfang November des vergangenen Jahres erhielten seine Mitarbeitenden eine erschütternde Mail von ihm. «Ihr werdet es nicht glauben, aber mein Krebs ist zurückgekehrt», schrieb er in der Nachricht. Er fürchte sich vor dem, was jetzt auf ihn zukomme, aber es helfe, zu wissen, dass sein Unternehmen in guten Händen sei.

Bei Burton besinnt man sich seit einiger Zeit stärker auf die eigenen Ursprünge als je zuvor. Das Unternehmen hat eine Kleiderkollektion lanciert, die an die Anfangszeit des Sports erinnern soll, setzte die Zusammenarbeit mit Stars wie Shaun White oder Chloe Kim aus, die das rein kommerzielle Snowboarden verkörpert hatten, und machte unter anderem Familienväter zu den Aushängeschildern der Marke.

Am 21. November 2019 teilte das Unternehmen mit, Jake Burton Carpenter, der Vater des Snowboardens, sei überraschend an Komplikationen seiner Krebserkrankung gestorben.

Vor seinem Tod fand Carpenter aber noch einen Weg, das Gefühl zu beschreiben, das er bei der Fahrt durch den Tiefschnee stets hatte. Zusammen mit dem Künstler Jeff Koons hat er vor drei Jahren ein Snowboard mit dem sinnigen Namen «The Philosopher» auf den Markt gebracht. Das Brett, dessen Erlös vollständig an Carpenters gemeinnützige Stiftung ging, ist mit Grafiken geschmückt, die Platons Höhlengleichnis darstellen. Sie sollen das tiefe geistige Eintauchen erfassen, das einsetzt, wenn man mit dem Brett durch den Schnee surft. Ein befreiendes Gefühl, bei dem einem nichts anderes übrig bleibt, als es mit anderen teilen zu wollen.

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