Ein Experiment am Cern rüttelt an den Grundfesten der Physik – allerdings nur sanft

Physiker haben weitere Belege für die Verletzung einer fundamentalen Symmetrie der Natur vorgelegt. Noch ist es aber zu früh, um einen Abgesang auf das Standardmodell der Teilchenphysik anzustimmen.

Christian Speicher
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Öffnung des LHCb-Detektors zur Installation eines Upgrades.

Öffnung des LHCb-Detektors zur Installation eines Upgrades.

Cern

Teilchenphysiker sind Kummer gewohnt. Immer wieder passiert es, dass sie in ihren Daten Hinweise auf ein neues Teilchen finden, das sich bei genauerem Hinsehen als statistische Fluktuation entpuppt. Diese Erfahrung hat sie eines gelehrt: Von einer Entdeckung sollte man erst dann sprechen, wenn die Belege erdrückend sind und eine Laune des Zufalls mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

Das muss man im Hinterkopf behalten, um eine Meldung vom Cern richtig einzuordnen. Am europäischen Laboratorium für Teilchenphysik in Genf haben Forscher der LHCb-Arbeitsgruppe Hinweise auf die Verletzung einer fundamentalen Symmetrie gefunden, die einen Grundpfeiler des Standardmodells der Teilchenphysik darstellt. Dieses Modell fasst zusammen, was man heute über die Elementarteilchen und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte weiss. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Abweichung auf zufällige Fluktuationen zurückzuführen ist, beträgt nur 0,1 Prozent. Das lässt aufhorchen. Einen Abgesang auf das Standardmodell wollen die Teilchenphysiker deshalb aber noch nicht anstimmen. Denn dafür müsste die Wahrscheinlichkeit kleiner als 0,00003 Prozent sein.

Die LHCb-Arbeitsgruppe untersucht Zerfälle von sogenannten B-Mesonen. Das sind Teilchen, die ein schweres Bottom-Quark enthalten. Die B-Mesonen können auf verschiedenen Wegen zerfallen. Interessant sind vor allem Zerfälle, bei denen am Ende ein Elektron und sein Antiteilchen oder ein Myon und sein Antiteilchen emittiert werden.

Das Bild zeigt einen seltenen Zerfall eines B-Mesons.

Das Bild zeigt einen seltenen Zerfall eines B-Mesons.

Visualisierung Cern

Elektronen und Myonen gehören zur Familie der Leptonen. Die Mitglieder dieser Familie haben zwar unterschiedliche Massen. Sonst sollten sie sich laut dem Standardmodell der Teilchenphysik allerdings nicht voneinander unterscheiden. Konkret bedeutet das, dass sie in gleicher Weise mit anderen Teilchen wechselwirken. Aus dieser sogenannten Leptonen-Universalität folgt, dass man in den Zerfallsprodukten der B-Mesonen genauso oft ein Elektron und sein Antiteilchen wie ein Myon und sein Antiteilchen finden sollte, nachdem man die massenbedingten Unterschiede herausgerechnet hat.

Schon früher hatten Forscher der LHCb-Arbeitsgruppe Hinweise darauf gefunden, dass die Leptonen-Universalität bei Zerfällen der B-Mesonen verletzt sein könnte. Und auch andere Experimente wiesen in diese Richtung. Doch die statistische Signifikanz dieser Befunde war dürftig. Nun haben die Forscher den vollen Datensatz ausgewertet, den sie in den letzten Jahren am Cern gesammelt hatten. Das Resultat: Das Verhältnis von Zerfällen mit Myonen und solchen mit Elektronen beträgt nicht 1, wie es das Standardmodell vermuten lässt, sondern 0,85. Damit erhärtet sich der Verdacht, dass die Leptonen-Universalität verletzt sein könnte.

Die statistische Signifikanz des Ergebnisses sei nun grösser als drei Standardabweichungen, sagt Nicola Serra von der Universität Zürich, der seit vielen Jahren am LHCb-Experiment beteiligt ist und dessen Arbeitsgruppe wesentlich zur jüngsten Auswertung beigetragen hat. Das sei die Schwelle, bei der man von einem ernstzunehmenden Hinweis sprechen könne. Für einen wasserdichten Beweis brauche es jedoch weitere Daten.

Offiziell geben sich die Teilchenphysiker noch zurückhaltend. Hinter vorgehaltener Hand ist allerdings eine gewisse Aufregung spürbar. Das hat mit anderen Resultaten zu tun, die die LHCb- und andere Arbeitsgruppen in den letzten Jahren veröffentlicht haben. Auch diese Experimente haben Anomalien zutage gefördert. Keine davon sei für sich alleine genommen aussagekräftig genug, sagt Serra. Faszinierend sei jedoch, dass sie alle ein ähnliches Muster aufwiesen. Das könne auf eine gemeinsame Ursache hinweisen.

Sollte sich in den kommenden Jahren bewahrheiten, dass die Leptonen-Universalität verletzt ist, hätte das tiefgreifende Konsequenzen für die Teilchenphysik. Es wäre der lange ersehnte Beweis, dass das Standardmodell nicht die ganze Wahrheit ist, sondern durch eine umfassendere Theorie ersetzt werden muss. Und man wüsste sogar, wo man den Hebel anzusetzen hätte. Eine Verletzung dieser fundamentalen Symmetrie lasse sich erklären, wenn es neben den vier bekannten Naturkräften – der Gravitation, der elektromagnetischen Kraft, der starken und der schwachen Kernkraft – noch eine fünfte Kraft gebe, die mit unterschiedlicher Stärke an Elektronen und Myonen koppele, sagt Serra.

Die Unzufriedenheit der Teilchenphysiker mit dem Standardmodell hat einen Grund. Das Modell ist zwar sehr erfolgreich, kann jedoch einige fundamentale Fragen nicht beantworten. Dazu gehört etwa die Frage, woraus die dunkle Materie besteht, die man in Galaxien wie der Milchstrasse vermutet. Und auch die im Universum zu beobachtende Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie kann im Rahmen des Standardmodells nicht befriedigend erklärt werden. Auch eine fünfte Kraft liefere keine unmittelbaren Antworten auf diese Fragen, sagt Serra. Entscheidend sei jedoch, die Türe zu einem besseren Modell aufzustossen.

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