Das Paracelsus-Spital muss schliessen, weitere Zürcher Kliniken stecken in schweren Turbulenzen – und das mitten in der Corona-Krise. Was ist da los?

Das Paracelsus-Spital muss schliessen, weitere Zürcher Kliniken stecken in schweren Turbulenzen – und das mitten in der Corona-Krise. Was ist da los?

Noch selten hat es die Spitäler so sehr gebraucht wie gerade jetzt. Und doch kämpfen viele mit Problemen.

Jan Hudec, Fabian Baumgartner, Text; Karin Hofer, Bilder
Drucken

Eliane Furrer verwaltet das Ende. Die Managerin des Paracelsus-Spitals in Richterswil, schwarze Haare, Igelfrisur, Brille, das Smartphone stets am Ohr, kam vor einem Jahr in das Haus hoch über dem Zürichsee, um den Klinikalltag zu führen. Nun muss sie die Schliessung der Klinik mit über 200 Mitarbeitern organisieren. Sie vermittelt Stellen für arbeitslos gewordene Pflegerinnen, Ärzte, Hauswarte und Putzpersonal und ist mit deren Sorgen konfrontiert. «Natürlich sind da auch Existenzängste. Gerade für alleinerziehende Mütter ist die Situation sehr schwierig», sagt sie.

Und Furrer ist auch zuständig dafür, das nicht mehr benötigte Mobiliar zu verkaufen. «Gesucht sind unsere antiken, nostalgischen Kinderbettchen. Das war eine der ersten Anfragen, die ich erhalten habe», erzählt sie. Inzwischen sind weitere hinzugekommen: Für Infusionsständer, Ultraschallgeräte, Gebärbetten und Bilder, die an den Wänden des Spitals hingen.

In den Abteilungen sind die Zimmer dunkel, im Gang stehen die leeren Kinderbettchen. «Es ist traurig, echt traurig», sagt Furrer. «Für mich ist die Situation bereits nach einem Jahr einschneidend. Wie muss es dann für Leute sein, die 30 Jahre lang hier gearbeitet haben?» Einige hätten ein Stück weit ihr zweites Zuhause verloren.

Seit dem vergangenen Freitag ist das Paracelsus-Spital Geschichte. Ausgerechnet in der grössten Gesundheitskrise des Landes muss im Kanton Zürich eine Klinik ihren stationären Bereich schliessen – zum ersten Mal seit über 20 Jahren. Und ausgerechnet das Coronavirus habe das Haus in den Abgrund getrieben, sagt die Spitalführung. Auch ein letzter Hilferuf der Paracelsus-Geschäftsleitung im Oktober brachte keine Rettung mehr. Es gab zwar nochmals Gespräche mit Interessenten aus dem In- und Ausland, doch die Hoffnungen zerschlugen sich. Zu düster erschienen die Aussichten.

Die Spitalleitung hoffte, neue Partner zu finden. Doch die Hoffnung zerschlug sich.

Die Spitalleitung hoffte, neue Partner zu finden. Doch die Hoffnung zerschlug sich.

Getrübte Zukunftsperspektiven

Das Richterswiler Spital ist längst nicht das einzige im Kanton Zürich, das leidet. In den letzten Jahren hat sich die Situation vor allem in den Regionalspitälern zugespitzt. Sparprogramme, teure Neubauprojekte und Uneinigkeit über die künftige Ausrichtung lasten auf den Krankenhäusern. Gleich in mehreren ist jüngst Streit aufgeflammt:

  • Spital Bülach: Besonders aufgeheizt war zuletzt die Stimmung am Regionalspital im Zürcher Unterland. Am Ursprung stand eine Auseinandersetzung um Sparmassnahmen, worauf Chefarzt Nic Zerkiebel von der Spitalleitung entlassen wurde – offiziell wegen «unterschiedlicher Auffassungen in der strategischen Ausrichtung». Der Spitalführung gelang es daraufhin nicht, die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen. Der Konflikt hat inzwischen zu einem Köpferollen in der Spitalleitung geführt. Der Spitaldirektor Rolf Gilgen ist in Frühpension gegangen, und Verwaltungsratspräsident Christian Schär tritt im nächsten Jahr nicht mehr zur Wahl an. Zudem ist ein geplantes Neubauprojekt auf Eis gelegt worden.
  • Spital Uster: Auch am Spital Uster haben Angestellte gegen die Kündigung einer Chefärztin protestiert, der Personalkonflikt ist dort aber eher Symptom einer tiefer greifenden Krise. In Uster will man mit dem Nachbarspital in Wetzikon fusionieren. Diesen September hätte die Bevölkerung über das Vorhaben abstimmen sollen, doch im letzten Moment ist die Sache geplatzt. Die finanziellen Aussichten des Spitals hatten sich derart verschlechtert, dass der mit Wetzikon ausgehandelte Vertrag nicht mehr eingehalten werden konnte. Die Spitalführung in Uster versucht derzeit mit verschiedenen Massnahmen das Ruder noch herumzureissen, aber die Zeit drängt. Bis Ende Jahr muss feststehen, ob die Ertragsaussichten insoweit verbessert werden können, als ein Zusammenschluss mit Wetzikon möglich ist. Eine Herkulesaufgabe. Die Fusionspläne sind deshalb akut gefährdet.
  • Spital Affoltern: Vor anderthalb Jahren stand das Spital Affoltern vor dem Aus. Im Mai 2019 stimmte die Bevölkerung über den Fortbestand des Spitals ab, drei Monate zuvor hatte der Affoltermer Stadtrat verkündet, dass er keine Zukunft für das Haus sehe und an der Urne ein Nein empfehle. Die Bevölkerung sah es anders und sagte deutlich Ja zur Umwandlung des Spitals in eine AG. Der Spitaldirektor freute sich auf eine «neue Dynamik». Nur ein halbes Jahr später musste dann aber die Geburtenabteilung wegen mangelnder Auslastung schliessen, und im Mai dieses Jahres verliess der Direktor selbst das Haus Knall auf Fall. Trotzdem versprüht die Spitalführung Zuversicht. 2019 konnte man einen kleinen Gewinn erwirtschaften und hat nun in der zweiten Welle der Corona-Pandemie immerhin rund 5 Prozent der Covid-19-Patienten im Kanton behandelt. Mit einer Konzentration auf Akutgeriatrie, Palliativmedizin und Psychiatrie sowie verstärkten Kooperationen will die Führung den Fortbestand des Spitals sichern. Dazu braucht es aber dringend auch einen Neubau, für den rund 100 Millionen Franken veranschlagt sind. Das dürfte schwierig zu stemmen sein.

Die Spitäler in Bülach, Uster und Affoltern stehen symptomatisch für eine Entwicklung, die in der ganzen Schweiz zu beobachten ist. Laut einer kürzlich publizierten Studie, für die das Beratungsunternehmen Roland Berger im Herbst 150 Spitalleitungen befragt hat, befürchten neun von zehn Spitälern, dass sich ihre wirtschaftliche Situation in den nächsten fünf Jahren verschlechtert.

Was also passiert da gerade im Gesundheitswesen?

Eine Erklärung lautet: Corona. Die Pandemie hat den Spitälern hohe Verluste beschert. Der Bund hatte im Frühling alle nicht dringend notwendigen Operationen verboten, um Platz für Covid-19-Patienten zu schaffen. In den meisten Kantonen blieb der grosse Ansturm dann jedoch aus. Stattdessen standen viele Bereiche leer. Zwar übernimmt beispielsweise der Kanton Zürich nun einen Teil des finanziellen Schadens seiner Listenspitäler, doch Bund und Krankenkassen wollen sich schadlos halten. Die Spitäler dürften deshalb auf einem Teil der Kosten sitzenbleiben.

Doch die Pandemie ist nur ein Teil der Erklärung für die Misere, die Probleme reichen tiefer. Seit der Revision des Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 2012 stehen die Spitäler in stärkerer Konkurrenz zueinander und müssen sich mit den Einnahmen aus den Fallpauschalen finanzieren – die Deckung von Defiziten durch den Staat ist vorbei.

Zudem hat die Politik in den letzten Jahren den Druck auf die Spitäler weiter erhöht, um die steigenden Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen. Die Fallpauschalen werden knapp gehalten, Operationen müssen die Spitäler vermehrt in den für sie weniger lukrativen ambulanten Bereich verschieben. Und auch die Qualitätsanforderungen wurden laufend erhöht. So hat man für diverse Eingriffe Mindestfallzahlen definiert. Wer diese nicht erreicht, darf die entsprechende Operation nicht mehr durchführen.

Eine verwegene Idee scheitert

An der wechselvollen Geschichte des Paracelsus-Spitals in Richterswil lässt sich nachzeichnen, wie sich das Gesundheitswesen in den letzten Jahren gewandelt hat.

Schon in den neunziger Jahren steht das Spital einmal vor der Schliessung. Auch damals ist es die Politik, die Druck auf die Spitäler macht. Der Regierungsrat hat es insbesondere auf kleine Landspitäler abgesehen und ortet am linken Zürichseeufer eine Überkapazität an Spitalbetten. Er kündigt an, dem Spital auf Anfang 1995 die Subventionen zu streichen, woraufhin die Richterswiler in einer Volksabstimmung entscheiden, das Spital an den Bauverein Paracelsus-Klinik zu verkaufen.

Das fortan anthroposophisch geprägte Spital setzt auf eine Verbindung von Schul- und Komplementärmedizin und stösst durchaus auf Anklang. Insbesondere sind die natürlichen Geburten und die alternativen Krebstherapien gefragt. Finanziell indes bleibt die Lage angespannt, der Verein muss immer wieder Geld einschiessen.

Die Bildschirme sind schwarz, die Geräte verpackt: leere Aufwachstation im Paracelsus-Spital.

Die Bildschirme sind schwarz, die Geräte verpackt: leere Aufwachstation im Paracelsus-Spital.

2013 erscheint die NSN Medical AG auf der Bildfläche. Das Unternehmen soll das Spital finanziell auf Kurs bringen, und das gelingt zunächst auch ganz gut. Geblendet vom Erfolg, plant die Spitalführung einen Ausbau, setzt auf Wachstum. Doch plötzlich stagnieren die Patientenzahlen. Das Spital rutscht 2015 erneut in die roten Zahlen.

Ein Sparprogramm bringt zwar Besserung, doch schon drei Jahre später folgt das nächste Tief. Wegen zusätzlicher Anforderungen des Kantons verliert das Spital Operationen und damit auch Einnahmen. Der Verwaltungsrat will daraufhin auf Onkologie und Geburten fokussieren, für andere Bereiche sucht man Partner. 2019 sieht das Ergebnis durchaus positiv aus. Doch dann kommt Corona und beendet den jahrelangen Überlebenskampf des kleinen Spitals.

«Wir alle glaubten an die Idee»

Für die Mitarbeiter ist die rasche Schliessung eine enorme Belastung. Eine von ihnen ist die Hebamme Annika Bösch. 17 Jahre lang hat sie auf der Geburtenabteilung des Spitals gearbeitet. «Wir alle glaubten an die Idee eines anthroposophisch geführten Spitals. Dafür nahmen wir auch weniger Lohn in Kauf», erzählt sie. Der Schliessungsentscheid habe sie und ihre Kolleginnen völlig unvorbereitet getroffen, wie ein Hammerschlag. Als das Spital Ende Oktober Nachlassstundung beantragt habe, sei ihnen versichert worden, dass der Betrieb noch bis Ende Jahr weiterlaufe. «Doch dann waren plötzlich nicht mal mehr die Dezemberlöhne gesichert.»

Innerhalb kürzester Zeit habe sie Abschied nehmen müssen von einer Arbeit, in die sie viele Jahre ihr ganzes Herzblut gesteckt habe, sagt Bösch. Die letzten Tage vor der Schliessung seien schrecklich gewesen. «Wir mussten gleichzeitig die werdenden Mütter betreuen, aufräumen und unsere Zukunft planen.»

Wie es für sie selbst weitergeht, weiss Bösch noch nicht. Angebote gibt es. Sie sei von einer freiberuflichen Hebamme angefragt worden, zudem übernehme das Spital in Einsiedeln Personal der Geburtenabteilung. «Doch der anthroposophische Geist, für den das Paracelsus stand, und damit eine Geburtshilfe, die Frau und Kind als Individuen ins Zentrum stellt, gehen unwiederbringlich verloren.»

Für Kritiker hat sich die Misere schon länger abgezeichnet. Ehemalige Mitarbeiterinnen monieren unerklärliche Personalentscheide und nicht nachvollziehbare Strategien, unter denen die Stimmung und die Qualität am Spital gelitten hätten. Auch Roland Brunner von der Gewerkschaft VPOD sagt auf Anfrage, Schuld am Niedergang des Spitals sei nicht Corona, sondern die jahrelange Misswirtschaft der Klinik. Die Pandemie sei lediglich der Auslöser der Krise, aber nicht die Ursache. «Die Angestellten haben jahrelang alles mit sich machen lassen und wollten sich nicht wehren – in der Hoffnung, so das Spital zu retten. Dass das nicht klappen kann, sehen wir jetzt.» Es werde sich nun zeigen, ob die Spitalführung die Versprechungen gegenüber dem Personal einhalte.

Paracelsus-Verwaltungsrat Jürgen Robe wehrt sich gegen die Vorwürfe, «von Missmanagement kann nicht die Rede sein». Natürlich sei Corona nicht allein schuld an der Schliessung, kleine Spitäler würden schlicht zwischen den regulatorischen und finanziellen Anforderungen zerrieben. «Aber wir haben wirklich gekämpft, um das Spital halten zu können. Und wir haben daran geglaubt, dass es klappt.» So hätten sie im letzten Jahr denn auch nochmals «full blow» ins neue Konzept investiert, den dritten Stock ausgebaut. Er sei Anfang Jahr optimistisch gewesen, doch Corona und das damit verbundene Operationsverbot hätten ein riesiges Defizit hinterlassen. Die Spitalleitung hoffte noch darauf, dass die Patientenzahlen im Sommer wieder steigen. Die Erholung blieb aber aus.

«Irgendwann stehen immer mehr Probleme immer weniger Lösungen gegenüber»: Paracelsus-Verwaltungsrat Jürgen Robe.

«Irgendwann stehen immer mehr Probleme immer weniger Lösungen gegenüber»: Paracelsus-Verwaltungsrat Jürgen Robe.

Die Schliessung wurde unumgänglich. «Wir verfügen nicht über die Reserven eines grossen Kantonsspitals», sagt Robe. Sieben Jahre lang hätten sie viel Geld und Energie investiert. «Und jetzt geht es nur noch darum, den Schaden zu minimieren.» Sie setzten nun alles daran, dass die Mitarbeitenden neue Stellen fänden.

Die vergangenen Monate beschreibt Robe als ein Schwanken zwischen Hoffen und Pessimismus. «Doch irgendwann stehen immer mehr Probleme immer weniger Lösungen gegenüber.» Es sei ein furchtbarer Entscheid gewesen, das Spital zu schliessen. «Ich hätte mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht ausgemalt, dass ich einmal ein Unternehmen auf diese Art und Weise verliere.»

Corona beschleunigt den Strukturwandel

Das Beispiel des Paracelsus-Spitals zeigt, wie die Corona-Krise den Spitälern zu schaffen macht. Es wird aber auch deutlich, dass Corona nicht die primäre Ursache der Probleme ist, sondern vielmehr einen Strukturwandel beschleunigt, der ohnehin schon im Gang ist. Zu diesem Schluss kommt auch das Wirtschaftsberatungsunternehmen PwC in einer vor wenigen Tagen publizierten Studie. Die Autoren schätzen den durch die Corona-Krise verursachten Gesamtschaden für die Schweizer Spitäler auf 1,7 bis 2,6 Milliarden Franken. Viele Spitäler hätten aber schon vor der Pandemie Mühe gehabt, eine ausreichende Marge zu erwirtschaften, um ihre Investitionen zu finanzieren.

Aus Sicht der Berater müssten die Spitäler, um in Zukunft erfolgreich zu sein, nicht nur sparen, sondern auch ihre Strukturen anpassen. Komplexe Eingriffe sollen auf wenige Standorte konzentriert, Kooperation verstärkt und ambulante Zentren geschaffen werden.

Die Geräte im Operationsbereich des Paracelsus-Spitals werden nun an Interessenten verkauft.

Die Geräte im Operationsbereich des Paracelsus-Spitals werden nun an Interessenten verkauft.

Gerade für kleine Häuser wird es aber schwierig. Wem es nicht gelingt, sich zu spezialisieren, der bleibt auf der Strecke. Den Kanton Zürich dürfte dieser Prozess etwas weniger stark treffen als andere Kantone, weil viele der kleinen Spitäler schon in den neunziger Jahren geschlossen wurden.

In Richterswil hofft man nun auf eine Rettung im Kleinen. Zumindest das Zentrum für integrative Onkologie soll weiterbetrieben werden. Der Chefarzt Michael Decker sagt: «Wir setzen alles daran, dass wir das ambulante Zentrum weiterführen können.» Zusammen mit seinem 25-köpfigen Team betreut er mehrere hundert Krebspatienten. Die Patienten hätten mit Bestürzung auf die Schliessung des Spitals reagiert, «viele behandeln wir seit Jahren, sie haben auch zu den Ärzten eine enge Bindung».

Sie hätten aber allen mitgeteilt, dass die ambulanten Behandlungen fortgeführt werden können. Noch unklar ist, wo das Zentrum künftig unterkommen soll. Derzeit fänden Verhandlungen statt, sagt Decker. «Es ist sehr belastend, wenn man nicht weiss, unter welches Dach man kommt. Ich hoffe, dass das nun rasch geklärt wird.»

Am Tag der Schliessung blitzt ein weiterer Hoffnungsschimmer auf: Das Spital in Einsiedeln will einen grossen Teil der Frauenklinik übernehmen.