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DIY Palast: Ein Traum aus Stein

Foto: Palais Idéal du Facteur Cheval

Exzentriker-Bau Palais idéal Der Palast des Postboten

Kitsch, Wahnsinn oder Kunst? 33 Jahre lang baute ein französischer Briefträger ganz allein ein Traumschloss voller Todeswidmungen. Das Dorf zerriss sich das Maul - doch Picasso war entzückt.

Ein gehörnter Dämon lacht, während Julius Cäsar, Archimedes und Gallierfürst Vercingetorix sich eine Burg auf die Schultern hieven. Sie sind zu Riesen mit Schuppenhaut angewachsen, zwischen deren Knien Mumien aus toten Augen starren. Um sie herum herrscht Gewimmel: Löwen und Geparden sind zu sehen, Reihen von Elefanten, Hirsche, ein Kaiman. Pilger wandern zwischen Tropenvögeln und Fabelwesen umher, die sich grinsend über die Reißzähne lecken, und irgendwo in der Menge tauchen Adam und Eva auf.

Sie alle umfängt wucherndes Gestein. Es wächst in langen, gewundenen Ranken über ihre Köpfe, umschlingt in Wellen ihre Füße, verneigt sich in Torbögen und reckt sich zu reich verzierten Türmen in den Himmel. Und doch ist es nicht der Stein, der sie zusammenhält. Sie eint der Traum, dem sie entsprungen sind: der Traum Ferdinand Chevals.

Steht man im südfranzösischen Örtchen Hauterives vor Chevals Palais idéal, wird klar: Es muss ein enormer Traum gewesen sein. Wie enorm, ist sogar ziemlich genau zu beziffern: 3500 Säcke Kalkstaub schwer. 1000 Kubikmeter Gestein groß. Und 33 Baujahre lang.

Dabei war der Schöpfer des einzigartigen Prachtbaus weder Maurer noch Architekt, sondern ein einfacher Briefträger. Nicht sein Beruf hatte ihm den Palast verschafft - er war förmlich darüber gestolpert.

Traumwandler mit Postkarten

Eine Inschrift im Palais idéal besagt: "Das Leben ist ein Ozean voller Stürme zwischen dem Neugeborenen und dem alten Mann, der geht." Wie rau diese See war, lernte der junge Ferdinand bald nach seiner Geburt 1836: Als Sohn eines Kleinbauern musste er früh auf dem Hof anpacken, für Schule blieb kaum Zeit. Schnell machte er Bekanntschaft mit dem Tod: Als er elf war, starb seine Mutter. Mit 17 verlor er den Vater.

Er musste auf eigenen Beinen stehen, doch das Militär lehnte ihn als zu klein und zierlich ab. Also ging er in die Bäckerlehre.

Cheval aber war kein Bäcker, er war Eigenbrötler. Kurz nachdem er mit 22 Rosalie Revol heiratete, brach er auf, um Arbeit zu finden - und blieb sechs Jahre spurlos verschwunden. Amtsaufzeichnungen über ihn während dieser Zeit fehlen, selbst seine Frau hatte keine Ahnung, wo er war. Erst 1863 kehrte er heim.

Schließlich fand er einen Beruf, der wie für ihn gemacht war: Landpostbote. Stundenlang wanderte Cheval mit einer Tasche voller Briefe durch die Rhone-Alpen, blätterte durch Illustrierte oder bestaunte Postkartenmotive fremder Länder. Ganz für sich.

Und doch blieb der Tod sein steter Begleiter: 1865 starb sein einjähriger Sohn Victorin Joseph Ferdinand. 1873 auch Rosalie, mit gerade mal 32. Was ihm blieb, waren die Erinnerungen auf seinen langen, täglichen Märschen. Und seine Träume.

Stein des Anstoßes

"Sie betreten einen Palast der Imagination", steht auf einer Inschrift des Palais idéal. Und tatsächlich wucherte der Bau zunächst in Chevals Vorstellung, wenn er seine 30-Kilometer-Runde drehte. "Was kann man", notierte er , "wenn man jeden Tag durch die gleiche Umgebung geht, anderes tun als zu träumen? Um mich abzulenken, baute ich in meinen Träumen einen Märchenpalast."

Über Jahre fantasierte er wandernd, wie er einen Prachtbau von atemberaubender Schönheit errichtete. Er tagträumte von "Gärten, Museen, Skulpturen und verschachtelten Labyrinthen" darin, von "der Architektur antiker Zeiten und ferner Länder".

Dann stolperte er.

Es war im April 1879, Cheval war neu verheiratet und erwartete ein Kind von seiner Frau Claire-Philomène. Wie jeden Tag sei er seine Route gegangen, als sein "Fuß an etwas hängen blieb, das mich ein paar Meter taumeln ließ". Verdattert sah er sich um. Und erblickte einen Stein "von solch bizarrer und doch pittoresker Form", dass er ihn ins Taschentuch wickelte und mitnahm.

Cheval war so fasziniert, dass er Tags darauf zurückkam und nach weiteren Steinen suchte: "Ich [...] stellte fest, dass andere sogar noch schöner waren." Sein Tagtraum kam ihm wieder in den Sinn. Er beschloss: "Da die Natur die Bildhauerei übernehmen will, kümmere ich mich um die Maurerarbeit und die Architektur." Er begann, Steine zu sammeln. Viele.

"Ich arbeitete Tag und Nacht"

Zunächst trug Cheval sie in der Tasche. Dann in Körben. Schließlich begann er, auf der Tour tagsüber Steinhaufen anzulegen, die er abends mit der Schubkarre abholte.

Als Erstes baute er nur einen Teich mit Tierfiguren und Wasserfall. Zwei Jahre dauerte das, doch dann, schrieb Cheval, "staunte ich selbst über meine Arbeit". Er kam in Schwung: Eine "Grotte des heiligen Amadeus" folgte, ein zweiter Wasserfall, steinerne Palmen, Kakteen und Olivenbäume.

Je weiter er vorankam, umso größer wurden die Pläne. Und umso mehr wurde der Traumpalast zu einem Sakralbau, etwas, was er dem Tod entgegenhalten könnte, was ihn überdauern würde: sein eigenes Denkmal. Und Grabmal.

Das Palais idéal in Hauterives

Das Palais idéal in Hauterives

Foto: imago/ Leemage

Er beschloss, eine ägyptische Grabstätte zu bauen, in der er "wie die Pharaonen" bestattet werden konnte. Dazu grub er eine Gruft, baute Särge mit schweren Grabplatten aus Stein. Überirdisch wuchsen immer neue, opulent dekorierte Zimmer, Säle und Grotten zu einem riesigen Kunstwerk: Eine "Höhle der Jungfrau Maria" baute Cheval, einen "Hindutempel", eine "Moschee", Miniaturburgen, eine Aussichtsplattform und "Säulen nach Art der Berber".

"Das Werk eines einzelnen Mannes", lautet eine Inschrift des Palais idéal. Der Palast, das war Cheval wichtig, sollte seine Arbeit sein - und nur seine. "Tag und Nacht" habe er gearbeitet: "Ich trug Steine auf dem Rücken, manchmal 15 Kilometer, meist in der Dunkelheit." Er kaufte nur Kalk und Zement, alles andere sammelte er selbst. Sogar ein Baugerüst zimmerte er aus gefährlich windschiefen Ästen.

Nur einmal ließ er sich von Kindern Muscheln aus den Ferien mitbringen. Er selbst hatte das Meer nie gesehen. Es war einfach zu viel zu tun.

Picasso ist begeistert

Obwohl Cheval eine Mauer ums Baugelände gezogen hatte, um Ruhe zu haben, bekamen Ortsbewohner mit, was passierte. "Schon nach Kurzem begann der örtliche Tratsch", so Cheval. Man hielt ihn für geistesgestört. "Aber da ihnen klar wurde, dass dieser Wahn weder gefährlich noch ansteckend war, rief niemand einen Psychiater." Ihm seien die Sticheleien egal gewesen: "Mir ging auf, dass die Menschen immer schon die verspottet und schikaniert haben, die sie nicht verstehen können."

Etwas anderes traf ihn mit aller Härte: 1894 starb seine Tochter Alice-Marie-Philomène mit 15 Jahren. Cheval hämmerte in eine Wand des Palais idéal: "Der Sterbende ist eine untergehende Sonne, die noch strahlender in einer anderen Hemisphäre aufgeht."

Inzwischen kamen viele Touristen, um den Bau zu sehen. 1905 erschien der erste Artikel im Magazin "La Vie Illustrée", bald kamen Journalisten aus London, Paris, den USA. 1907 stellte Cheval ein Dienstmädchen für die Besucher ein.

Endlich, im Jahr 1912, ist das Opus magnum fertig. Nach "10.000 Tagen, 93.000 Stunden, 33 Jahren der Bewährungsprobe", wie Cheval festhält. Im Alter von 77 Jahren hat er seinen Traumpalast fertiggestellt. 26 Meter lang, 14 Meter breit, 10 Meter hoch.

"Alle staunten über mein Monument", schrieb er stolz. Dabei war ihm die Bedeutung, die der Bau erlangen sollte, noch gar nicht voll bewusst: In den Zwanzigerjahren würden die Surrealisten Cheval als ihren Vorläufer feiern, André Breton ihm ein Gedicht und Max Ernst eine Collage widmen. Auch Picasso sollte mehrfach anreisen, um den Palast zu studieren, Fotos davon würden im New Yorker MoMA hängen. 1969 würde man es zum Kunstdenkmal erklären, inzwischen zieht es jährlich mehr als Hunderttausend Besucher an. Doch all das sollte Cheval nicht mehr erleben.

Für ihn war der Palast vor allem der Ort, an dem er zu guter Letzt Ruhe finden konnte - seine letzte Ruhe. So dachte er.

Ein zweiter Palast

Denn er hatte das Schloss, in dem er sich begraben lassen wollte, zwar 33 Jahre mit schier unerschöpflicher Kraft gegen alle Widrigkeiten gebaut - nur leider am falschen Platz: Eine Bestattung musste nach dem Gesetz nun mal auf einem Friedhof erfolgen. Der nächste lag einen Kilometer vor Hauterives.

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Foto: Palais Idéal du Facteur Cheval

Der alte Herr gab nicht auf. Er war noch immer stark genug, um sich 1914 erneut die Schubkarre zu schnappen, Steine zu sammeln und ein Mausoleum zu bauen. Über acht Jahre schuf er ein meterhohes Konstrukt mit so verspielten Ornamenten, Säulen und Steinpflanzen wie in seinem Palast. "Man muss es sehen, um es zu glauben", notierte er stolz.

Dann stand 1922 auch sie - die "Gruft der Stille und unendlichen Ruhe". Das Lebenswerk des nun 86-Jährigen war vollendet.

Woher der greise Briefträger die Stärke genommen hatte, über Jahrzehnte mit solcher Energie zu schuften, unermüdlich gegen den Tod und das Vergessen anzubauen, ist schwer zu beurteilen. Schwerer als das Ergebnis seines Kraftakts. Er hielt es selbst fest, in einer Inschrift des Palais idéal: "Der Schwache wie der Starke sind gleich vor dem Tod".

Zwei Jahre später, am 19. August 1924, starb Cheval.