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Sascha Lobo

Moderne Kopfhörer Das Weltbewältigungsinstrument des 21. Jahrhunderts

Kopfhörer werden der Nachfolger des Smartphones und haben den Friedensnobelpreis so verdient wie Greta. Nicht nur, weil sie den Regionalexpress zu einem besseren Ort machen und signalisieren: "Sprich mich nicht an".

Die wichtigste Erfindung der letzten vierzig Jahre ist natürlich das Internet in seiner heute normalen Form als mobiles Internet. Die zweitwichtigste Erfindung sind moderne* Kopfhörer. Sie müssten den Friedensnobelpreis bekommen, wenn nicht Greta die zwingende Wahl wäre.

Kopfhörer sind keine schlichte Technologie. Sie sind ein soziales, gesellschaftliches und kulturelles Wunder, mehr noch, eine Wunderwelt. In den vergangenen Jahren sind immer neue Erweiterungen dieser Welt auf uns eingeprasselt. Funkkopfhörer in akzeptabler Qualität, Noise Cancelling, die beginnende Verschmelzung mit digitalen Assistenten wie Alexa, Google Assistant oder Siri.

Vor wenigen Tagen ist ein Patent von Apple  für eine Gestensteuerung der Kopfhörer bekannt geworden. Der ständige Kontakt mit der Haut im Ohr wird bald ausgenutzt werden, um Gesundheitsdaten zu erheben. Die Körpertemperatur lässt sich im Ohr ohnehin sehr gut messen, die Venenstruktur im Ohr  ist so einzigartig wie der Fingerabdruck und taugt daher zur biometrischen Identifikation. Puls und Sauerstoffsättigung des Bluts lassen sich ebenso bestimmen. Kurz: Der wahre Nachfolger des Smartphones sind Kopfhörer.

Getragen im öffentlichen und nicht öffentlichen Nahverkehr

Noch scheint die Smartwatch das Maß der Dinge bei den sogenannten Wearables zu sein, also den Technologien, die am Körper getragen werden. Noch. Aber Armbanduhren sind Kinder des 20. Jahrhunderts. Es ist alles andere als gesichert, dass die smarte Version auch Leute überzeugen wird, für die eine eigene, spezielle Maschine zur Zeitmessung so naheliegend scheint wie ein Festnetztelefon, also ein Apparat, mit dem man eine Wohnung anrufen kann. Kopfhörer dagegen haben die Welt längst erobert.

Die größte Kulturleistung der Generation Z mag der offensive Versuch der Rettung des Klimas sein, die größte Kulturleistung der Millennials ist die Unerbittlichkeit, mit der sie Kopfhörer in die Selbstverständlichkeit des Alltags hineingezwungen haben.

Schon 2016 fand eine amerikanische Studie  diesbezüglich eindrucksvolle Zahlen. Vier Stunden am Tag nutzen Millennials Kopfhörer, 55 Prozent hören beim Arbeiten Musik, einen Tag ohne Musik schätzten 62 Prozent schlimmer ein als einen Tag ohne menschliche Interaktion, fast 90 Prozent benutzen Kopfhörer im öffentlichen Nahverkehr.

Funkkopfhörer haben sogar den nicht öffentlichen Verkehr erobert, 17% der befragten Besitzer von Apples Funkkopfhörern erklärten im Sommer 2019 angeblich, sie hätten ihre AirPods beim Sex  getragen. Man spürt das verächtliche Schnauben derjenigen, die sich an ihren letzten, selbstredend kopfhörerlosen Sex noch ganz genau erinnern. Aber es handelt sich um eine logische Folge der Art, wie solche Über-Technologien wie Smartphones oder eben Kopfhörer gesellschaftlich funktionieren.

Smartphonen junge Leute ihr Leben kaputt?

Hier besteht noch immer ein enormes Missverständnis zwischen den Generationen (weniger als Altersfrage, sondern eher als Haltungsfrage zu verstehen). Gut erkennbar an einer soeben veröffentlichten Untersuchung , nach der diese jungen Leuten heutzutage sagenhafte neun Stunden und zweiundvierzig Minuten online sein sollen. Jeden Tag! Um Gottes Willen, sagen die analog Geprägten, fertigen sich brandneue Sorgen an, geben Suchtstudien in Auftrag und fordern ein Ministerium gegen Digitalexzesse. Zu unserer Zeit hat die Jugend Vollzeit Goethe gelesen und im Bus notensicher Bachkantaten nachgesummt, jetzt smartphont sie ihr Leben kaputt.

Skeptisch allerdings macht die Behauptung derselben Untersuchung, die Jugend sei wöchentlich 1,7 Stunden mit sogenannten Wearables online. Bitte? Gemeint sind Geräte wie die Smartwatch, aber was genau bedeutet dann online? Ist so ein Gerät nicht eigentlich immer online? Ganz unabhängig von der jeweiligen Definition wird das Problem erkennbar.

Manchmal nimmt man sie halt ab

Solche spektakulär scheinende Werte - fast zehn Stunden am Tag! - sind so aussagelos wie die Dauer, wie lange die Babyboomer am Tag ihre Armbanduhren tragen. Sie zeigen eine falsche Perspektive auf Technologie und Alltag. Man begreift eine neu aufkommende Technologie als Fremdkörper, die dem normalen Alltag übergestülpt wird. Eine aus persönlicher Sicht nachvollziehbare Sichtweise, aber kommende Generationen finden ihre eigene Normalität. Und in dieser neuen Normalität des 21. Jahrhunderts stehen wir vielleicht kurz vor einer Umkehrung: Kopfhörer zu tragen ist der neue Normalzustand, und manchmal nimmt man sie halt ab.

Kopfhörer sind das Weltbewältigungsinstrument des 21. Jahrhunderts. Sie beamen den Kopf an einen Ort, der besser ist als der Regionalexpress, und sie dienen als allgemeinverständliches Signal: "Ich möchte nicht angesprochen werden". Mit der natürlichsten digitalen Kommunikation, den verschickten Sprachnachrichten, bekommt sie sogar eine soziale Komponente.

Immer mehr sehr junge Menschen tragen einen Funkkopfhörer auf einer Seite, während sie gemeinsam durch die Straßen spazieren. Toll! Das ist weniger sozial invasiv als ständig auf das Smartphone zu lugen, und gleichzeitig kann man den Soundtrack seines Lebens auch beim Gespräch weiterhören oder Dritte situativ dazuschalten.

Aber, aber, aber!

Die Digitalisierung lässt sich als Geschichte der Individualisierung erzählen, und in diese Richtung geht die Entwicklung: Die Schaffung eines eigenen, digital und individuell steuerbaren, transportablen Tonraumes. Das heutige Noise Cancelling ist nur ein eindimensionaler Vorläufer. Längst forschen und arbeiten eine Reihe Start-ups und Tech-Konzerne daran, dass man feinjustieren  kann, welche Geräusche durchgelassen werden und welche nicht. Etwa so, wie man heute auf dem Smartphone einstellt, dass nur bestimmte Anrufer überhaupt durchgelassen werden.

Im Sommer 2019 wurde ein Paper  in der Wissenschaftszeitschrift "Nature" veröffentlicht, das die galoppierenden Erfolge des Gedankenlesens mit Hilfe der Messung von hirnelektrischen Signalen verdeutlicht. Die übernächste Evolutionsstufe der Kopfhörer hört vielleicht, was im Kopf geschieht.

Man hört die analog Geprägten aufkreischen. Aber, aber, aber …wenn alle immer Kopfhörer tragen - dann ist ja gar keine Interaktion mehr möglich! Wo bleibt das direkte Gespräch zwischen den Menschen! Eine solche Abkapselung von der Welt ist doch irgendwie asozial! Nein. Asozial ist der Verfügbarkeitsanspruch, die gestrig-übergriffige Sichtweise, alle Menschen müssten sich in der Öffentlichkeit stets aufnahmebereit halten. Für unerwünschte Anmachen, kleinkarierte Zurechtweisungen oder die gnädige Zuteilung der Weisheiten über eine längst untergegangene Welt. Wer Kopfhörer trägt, startet keine Angriffskriege; das Unheil der Welt geht von Leuten aus, die keine Kopfhörer tragen.

*Kopfhörer wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts erfunden. Aber hier ist das gesellschaftliche Phänomen der allgegenwärtigen, transportablen Kopfhörer gemeint, die in den Achtzigern bei Jugendlichen mit dem Walkman aufkamen und erst mit dem mp3-Player zur vollen Blüte  heranreiften.

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