Zum Inhalt springen

Covid-19 und die Finanzmärkte "Ein Stopp, der sich stufenweise durch die Wirtschaft frisst"

Das Coronavirus legt Chinas Wirtschaft lahm, doch in Europa und den USA melden die Börsen neue Rekorde. Ökonom Mohamed El-Erian hält den Optimismus für überzogen - und erwartet schwerere Verwerfungen.
Ein Interview von Stefan Kaiser
Börse in Shanghai: Selbst in China hat die Epidemie nicht zu einem Crash geführt

Börse in Shanghai: Selbst in China hat die Epidemie nicht zu einem Crash geführt

Foto: AP

Geschlossene Fabriken, leere Geschäfte: In Teilen Chinas steht die Wirtschaft wegen des Coronavirus derzeit still. Auch westliche Konzerne wie VW, Adidas oder Apple sind getroffen - sie müssen ihre Umsatzprognosen senken und um ihre weltweiten Lieferketten bangen. Die Lage ist ernst - doch an den Aktienmärkten in den USA und Europa wird die Krise bisher eher mit einem Schulterzucken aufgenommen. Sowohl der deutsche Leitindex Dax als auch der amerikanische S&P 500 notieren in der Nähe ihrer Rekordstände, die sie erst vor wenigen Tagen erreicht haben. Die Krise in China, so die allgemeine Einschätzung, werde schnell wieder vorbeiziehen.

Mohamed El-Erian zweifelt daran, dass diese Einschätzung richtig ist. Der ökonomische Berater des weltgrößten Versicherungskonzerns Allianz ist ein Star an den Finanzmärkten - und er erwartet gravierende Folgen der Virusepidemie für die Wirtschaft. Es sei wie ein "plötzlicher Stopp, der sich stufenweise durch die Wirtschaft frisst", sagt El-Erian im Interview mit dem SPIEGEL - "durch immer mehr Branchen und immer mehr Länder". Auch für die ohnehin angeschlagene deutsche Wirtschaft sei dies ein "negativer Schock".

SPIEGEL: Herr El-Erian, das in China grassierende Coronavirus legt große Teile der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt lahm. An den Börsen scheint das aber bisher kaum eine Rolle zu spielen. Warum?

El-Erian: Ökonomisch gesehen ist das Coronavirus ein externer Schock. Und die Finanzmärkte sind darauf konditioniert, dass solche externen Schocks eindämmbar, zeitlich begrenzt und umkehrbar sind. Dieser Glaube ist sehr tief verwurzelt, und er wurde verstärkt durch die Reaktionen der Zentralbanken, die bei jedem Schock frisches Geld bereitgestellt haben. So ist an den Märkten eine Mentalität entstanden, bei jedem kleinen Rücksetzer nachzukaufen - in der Angst, sonst den nächsten Börsenrekord zu verpassen. Und diese Strategie hat in der Vergangenheit außerordentlich gut funktioniert.

SPIEGEL: Aber wird es auch diesmal funktionieren?

Zur Person

Mohamed El-Erian, Jahrgang 1958, ist Berater des Versicherungskonzerns Allianz, Präsident des Queens’ College der Universität Cambridge und Autor mehrerer Bücher. Bis Anfang 2014 war er Chef der Investmentgesellschaft Pimco, einem der weltgrößten Investoren. El-Erian wuchs in Ägypten auf und studierte in Großbritannien an den Eliteuniversitäten Cambridge und Oxford. Zwischenzeitlich war der Ökonom auch für den Internationalen Währungsfonds tätig.

El-Erian: Die allgemeine Erwartung der Ökonomen geht von einer v-förmigen Entwicklung der chinesischen Wirtschaft aus: ein deutlicher Einbruch im ersten Quartal dieses Jahres, gefolgt von einer sehr schnellen Erholung im zweiten Quartal. Ich halte das für den Moment für deutlich zu optimistisch. Denn erstens gibt es eine sehr große Unsicherheit darüber, wie die Situation rund um das Virus tatsächlich ist. Und zweitens beobachten wir einen plötzlichen Stopp, der sich stufenweise durch die Wirtschaft frisst. Jeden Tag wachen wir auf und hören neue Meldungen über wirtschaftliche Folgen innerhalb und außerhalb Chinas.

SPIEGEL: Was bedeutet so ein plötzlicher Stopp, von dem Sie sprechen?

"Es kommt nicht oft vor, dass ein wirtschaftlicher Schock Angebot und Nachfrage zugleich trifft"

El-Erian: Zuerst sind die Auswirkungen dort, wo das Virus ausgebrochen ist, dann bekommen andere Teile Chinas sie zu spüren. Dann spürt Japan, dass plötzlich keine Touristen mehr aus China kommen. Dann teilt Burberry mit, dass der Umsatz in China um 75 Prozent gesunken ist. Dann sagt der Fiat-Chrysler-Konzern, dass er bald Fabriken in Europa schließen muss, wenn notwendige Vorprodukte aus China ausbleiben. Dann warnt Apple vor Störungen sowohl bei der Nachfrage als auch beim Angebot seiner Produkte. Das sind alles Fakten. Und so geht es weiter - durch immer mehr Branchen und immer mehr Länder.

SPIEGEL: Viele westliche Konzerne haben ihre Fabriken in China geschlossen - unter anderem der Apple-Zulieferer Foxconn. Offenbar schlägt das schon auf die Lieferketten durch.

El-Erian: Nicht nur die Lieferketten werden unterbrochen, auch die Nachfrage wird beeinträchtigt. Und deshalb bin ich ein bisschen besorgter als die derzeitigen Konsenserwartungen. Es kommt nicht oft vor, dass ein wirtschaftlicher Schock Angebot und Nachfrage zugleich trifft.

SPIEGEL: Die wegfallende Nachfrage in China ist gerade für die deutsche Autoindustrie ein großes Problem. Für Hersteller wie VW oder BMW ist die Volksrepublik längst der wichtigste Markt. Wie wird das die deutsche Wirtschaft als Ganzes treffen?

El-Erian: Das ist ein weiterer negativer Schock, der zu den anderen Unsicherheiten der deutschen Wirtschaft noch hinzukommt. Es wird nun darauf ankommen, wie robust die Binnenkonjunktur in Deutschland ist. Die deutsche Wirtschaft ist ohnehin seltsam gespalten.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

El-Erian: Es gibt auf der einen Seite die exportorientierte Industrie, unter anderem mit der Autobranche, die schwere Zeiten erlebt. Auf der anderen Seite ist die Binnenwirtschaft mit dem Bausektor, die boomt. Und die Frage ist: Kann man so überhaupt weitermachen? Das ist eine Frage, die weit über Deutschland hinausgeht.

SPIEGEL: Und was wäre Ihre Antwort?

El-Erian: Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, dass es eine sehr ungewöhnliche Situation ist, die ich sehr genau beobachten würde.

SPIEGEL: Was könnte Deutschland denn tun, um das Problem zu lösen?

El-Erian: Das ist keine Frage der technischen Planung, das ist eine Frage des politischen Willens. Ich bin schon lange besorgt darüber, dass sich Deutschland und Europa zu stark auf die Europäische Zentralbank verlassen. Es geht darum, ob man bereit ist, Strukturreformen einzuleiten und - bei Ländern wie Deutschland, die fiskalischen Spielraum haben - höhere Haushaltsausgaben vorzunehmen, um in Infrastruktur zu investieren.

SPIEGEL: Nicht nur die deutsche Politik verlässt sich auf die Europäische Zentralbank, auch die Investoren an den Finanzmärkten setzen im Zuge der Coronakrise offenbar darauf, dass die Notenbanken immer weiter immer mehr billiges Geld zur Verfügung stellen. Die chinesische Zentralbank hat bereits die Zinsen gesenkt. Werden andere folgen?

El-Erian: Ja, denn wenn sie es nicht tun, wird ihre Währung aufwerten. Die US-Notenbank Fed hat bereits angekündigt, dass sie reagieren wird, wenn es nötig ist. Und ich denke, es wird wahrscheinlicher, dass sie die Zinsen senkt.

SPIEGEL: Und was macht die Europäische Zentralbank (EZB)? Ihr Leitzins ist ja schon auf null.

El-Erian: Die EZB ist in der schwierigsten Lage. Es ist in zunehmendem Maße eine Lose-lose-Situation. Sie kann nicht weniger tun, weil sie damit eine Störung an den Börsen riskieren würde. Sie kann aber auch nicht einfach mehr tun, weil sie riskiert, dass es kontraproduktiv für die Wirtschaft wäre. Sich allein auf eine Fortführung der ultralockeren Geldpolitik zu verlassen, bringt viele ungünstige Nebenwirkungen mit sich: Statt den Konsum anzuregen, führt sie dazu, dass die Menschen mehr Geld sparen. Sie hält Zombieunternehmen am Leben, die immer mehr Schulden machen. Sie fördert die übermäßige Risikoübernahme durch bestimmte Segmente des Finanzwesens. Sie führt dazu, dass weniger Finanzprodukte für die langfristige Vorsorge bereitgestellt werden. Und dazu, dass Geld in Volkswirtschaften falsch eingesetzt wird. Ich bin wirklich besorgt, wie das ausgeht.

SPIEGEL: Wenn die US-Notenbank Fed im Zuge der Coronakrise die Zinsen senkt und Chinas Wirtschaft weiter so hart getroffen wird, könnten gleich zwei Träume von Donald Trump gleichzeitig wahr werden: billiges Geld für die US-Wirtschaft und ein stark geschwächter Konkurrent im Kampf um die ökonomische Vorherrschaft auf der Welt.

El-Erian: Chinas Wirtschaft wird durch das Coronavirus vom nächsten Schock getroffen - zu einer Zeit, in der es ohnehin eine komplexe wirtschaftliche Transformation durchläuft. Der Druck der USA auf China wird wohl eher nicht nachlassen.