Was macht den Menschen aus? Die Epigenetik soll Antworten liefern

Lieblosigkeit, Hunger und Gewalt, aber auch positive Lebensumstände hinterlassen Spuren im Erbgut. Die Epigenetik liefert neue Erkenntnisse darüber, was einen Menschen ausmacht.

Eveline Rutz
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Nicht nur körperliche, sondern auch seelische Belastungen prägen die Gene. (Bild: pd)

Nicht nur körperliche, sondern auch seelische Belastungen prägen die Gene. (Bild: pd)

Die Gene machen uns zu dem, was wir sind. Sie werden uns vererbt und prägen uns ein Leben lang. Diese Vorstellung erlebte im Jahr 2000 einen Höhepunkt, als in den USA das menschliche Genom entschlüsselt wurde. Forschung und Gesellschaft waren überzeugt: Kennen wir sein Erbgut, kennen wir einen Menschen.

Doch die Euphorie verflog rasch. Es zeigte sich, dass die rund 22500 Gene allein zu wenig aussagekräftig sind. Wissenschafter entdeckten, dass Gene nicht nur steuern, sondern auch gesteuert werden – dass Umwelteinflüsse im Erbgut Spuren hinterlassen.

Liebe und Stress wirken bis in die einzelne Zelle

Epigenetische Studien dokumentieren, dass sich auf der Ebene oberhalb des DNA-Strangs entscheidende Prozesse abspielen. Kleinste chemische Anhängsel bewirken, dass einzelne Gene an- und andere abgeschaltet werden. «Alles, was wir erleben, schlägt sich auf diesen Schaltern nieder», erklärt der deutsche Wissenschaftsautor Peter Spork. Liebe, Stress, Erziehung, Traumata, aber auch Ernährung und Sport wirkten bis in die einzelnen Zellen hinein. Sie könnten einen Organismus dauerhaft prägen.

Dass die Lebensumstände die Regulation der Gene beeinflussen, wiesen Forscher der ETH Zürich am Beispiel von Fruchtfliegen eindrücklich nach. Sie zogen Embryonen während einer gewissen Dauer nicht wie üblich bei 25 Grad, sondern bei 37 Grad auf. Als Folge des Hitzeschocks entwickelten die Versuchstiere statt einer weissen eine rote Augenfarbe. Die verantwortlichen DNA-Sequenzen blieben gleich. Was sich anpasste, waren die epigenetischen Marker an deren Oberfläche. Sie veränderten sich dauerhaft:

Die Nachkommen der rotäugigen Fruchtfliegen hatten ebenfalls rote Augen.

Aber nicht nur körperliche, sondern auch seelische Belastungen prägen die Gene. So berichten Nachkommen von Flüchtlingen beispielsweise von Albträumen, obwohl sie in einem sicheren Land zur Welt gekommen sind. Kinder spüren die Folgen elterlicher Traumata, selbst, wenn ihnen diese verschwiegen werden. Lange ist man davon ausgegangen, dass das Leid über das Verhalten weitergegeben wird. Epigenetische Untersuchungen liefern nun Hinweise darauf, dass dabei ebenso ­biologische Prozesse im Spiel sind.

Bei Holocaust-Überlebenden stellten Forscher unter anderem epigenetische Veränderungen an einem Gen fest, welches für die Stressverarbeitung zuständig ist. Dieses ist bei ihnen stärker blockiert als bei Juden, welche nicht Opfer der Verfolgung geworden sind. Bei den nach dem Krieg geborenen Kindern beobachtete man genau das Gegenteil. Das besagte Gen ist weniger blockiert; sie leiden eher an stressbedingten Erkrankungen.

Psyche reagiert auf Belastungen

«Gewalt, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung und Erniedrigung können zu psychischen Krankheiten führen», sagt Isabelle Mansuy, Hirnforscherin an der Universität und der ETH Zürich. Bei Mäusen habe sich gezeigt, dass einige Folgen negativer Erlebnisse bis zur vierten Generation weitergegeben würden. Die Professorin für Neuroepigenetik gilt als Pionierin ihres Fachs. Im Rahmen ihres bekanntesten Experiments werden neugeborene Mäuse mehrfach unvorbereitet für drei Stunden von ihren Müttern getrennt. Diese werden zur gleichen Zeit mit einer Röhre in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und kehren entsprechend gestresst zu ihrem Nachwuchs zurück.

An den vernachlässigten Babys lassen sich danach deutliche Belastungssymptome beobachten.

Sie entwickeln beispielsweise Depressionen, zeigen Lernschwierigkeiten und verhalten sich weniger risikoscheu als Artgenossen, die behütet aufwachsen. Ihr Epigenom weist neue Prägungen auf, welche der nächsten Generationen vererbt werden. Übertrage man dieses Wissen auf den Menschen, könne es Schuldgefühle mindern, sagt Isabelle Mansuy. Psychisch Erkrankte dächten häufig, sie hätten ihr Leben einfach nicht im Griff. «Dabei haben psychische Krankheiten – wie körperliche Leiden – mit den Lebenserfahrungen früherer Generationen zu tun.» Man müsse sie akzeptieren und behandeln.

Wie die Forscher am Mausmodell aber ebenso feststellten, können positive Erfahrungen ein Trauma ­abschwächen. «Ein gutes ­Umfeld kann positive Ver­änderungen bewirken», so Mansuy.

Die Chance, zu handeln

Diesen Befund hebt auch Peter Spork hervor: «Wir sind nicht Marionetten unserer Gene.» Das Schicksal eines Menschen sei nicht vorbestimmt. Durch seinen Lebensstil könne er wesentlichen Einfluss nehmen.

«Wir haben eine ungeahnte Macht über unser Erbgut und dasjenige unserer Kinder.»

Starke Bindungen und positive Erfahrungen machten widerstandsfähig, so Spork. Eltern tun seinen Ausführungen nach gut daran, in einem gesunden Mass auf den Lebensstil ihrer Kinder zu achten. Die Gesellschaft sollte zudem verstärkt in die seelische und körperliche Entwicklung der Kleinsten investieren. Das Wissen um epigenetische Mechanismen eröffne uns die Chance zu handeln, betont Forscherin Mansuy. «Es ist entscheidend, wie wir miteinander umgehen.»