Solarstrom aus dem Quartier: Mein Nachbar ist auch ein Kraftwerk

In Walenstadt entsteht der erste lokale Strommarkt der Schweiz. Die Bewohner eines kleinen Quartiers wollen sich gegenseitig Solarstrom verkaufen. Der Handel soll vollautomatisch über eine Blockchain abgewickelt werden.

Michael Genova
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Schwemmiweg-Quartier in Walenstadt: Besitzer von Fotovoltaikanlagen verkaufen den überschüssigen Solarstrom an ihre Nachbarn. (Bild: PD)

Schwemmiweg-Quartier in Walenstadt: Besitzer von Fotovoltaikanlagen verkaufen den überschüssigen Solarstrom an ihre Nachbarn. (Bild: PD)

Am Schwemmiweg in Walenstadt wird die Zukunft gemacht. Wenn die Einwohner im September ihre Herdplatten einschalten, wird der Strom nicht mehr vom nächsten Grosskraftwerk fliessen, sondern vom Dach des Nachbarn. Im Quartier betreiben schon heute viele Hausbesitzer eigene Fotovoltaikanlagen. Künftig werden sie den überschüssigen Solarstrom direkt an ihre Nachbarn verkaufen. So soll der erste lokale Strommarkt der Schweiz entstehen.

Teil dieses Experiments ist Christian Dürr, Geschäftsleiter des Wasser- und Elektrizitätswerks Walenstadt (WEW). «Uns interessieren die Chancen und Risiken eines zum Teil selbstversorgenden Quartiers», sagt er. Lokal produzierter Solarstrom soll vor Ort verbraucht werden: Das ist die zentrale Idee des Projekts Quartierstrom. Daran beteiligen sich die ETH Zürich, die Universität St. Gallen, die Hochschule Luzern sowie mehrere Unternehmen. Gefördert wird der einjährige Pilotbetrieb vom Bundesamt für Energie.

Die Energiewende beginnt in der Nachbarschaft

Über 30 Haushalte aus Walenstadt werden während eines Jahres über die lokale Börse Strom handeln. Darunter befinden sich Hausbesitzer mit eigener Fotovoltaikanlage sowie Einwohner, die nur Strom beziehen wollen. Zum lokalen Netz gehören sieben Batteriespeicher von Haushalten – sie werden aufgeladen, wenn mehr Strom produziert als verbraucht wird. Ebenfalls eingebunden ist eine Schnellladestation für Elektroautos.

Einer der Teilnehmer ist der Walen­städter Peter Stutz, der mit gutem Beispiel vorangehen will. «Wir können nicht immer über die Energiewende sprechen, ohne etwas beizutragen», sagt er. Stutz ist Stockwerkeigentümer. Auf dem Dach des Mehrfamilienhauses ist eine Fotovoltaikanlage installiert, im Keller steht ein Batteriespeicher. Der technisch interessierte Rentner erhofft sich vom Projekt vor allen neue Erkenntnisse über die Funktion lokaler Stromgemeinschaften. Er ist überzeugt, dass diese in Zukunft dazu beitragen könnten, Stromspitzen zu brechen und so eine Überlastung des Netzes zu verhindern.

Quelle: Quartier-strom.ch/Grafik: sbu

Quelle: Quartier-strom.ch/Grafik: sbu

Ein Quartier produziert seine eigene Sonnenenergie

Am Schwemmiweg in Walenstadt wollen rund 30 Haushalte über eine Strombörse ihren selbst produzierten Solarstrom handeln.

Das Wasser- und Elektrizitätswerk (WEW) stellt für den Pilotversuch sein Verteilnetz zur Verfügung, um den Strom zwischen den Haushalten zu übertragen. Prosumenten (Produzent und Konsument) sind Besitzer von Fotovoltaikanlagen. Sie produzieren und verbrauchen gleichzeitig Strom. In einer App legen sie fest, zu welchen Bedingungen sie den überschüssigen Solarstrom an ihre Nachbarn abgeben wollen. Die Konsumenten geben in der App an, wie viel sie für erneuerbaren Strom aus ihrem Quartier bezahlen wollen. Wenn in der lokalen Stromgemeinschaft mehr Strom produziert als verbraucht wird, können stationäre Batterien diesen speichern. In Walenstadt werden sieben Speicher von Haushalten mit Fotovoltaikanlage ins Netz eingebunden. Auch die Batterien von Elektroautos können als Speicher genutzt werden. (mge)

Auch für Sandro Schopfer vom Bits to Energy Lab der ETH Zürich liegen die Vorteile auf der Hand. «Der Solarstrom vom Dach des Nachbarn ist sauber.» Dadurch müssten Konsumenten zum Beispiel weniger Atomstrom beziehen. Zentral sei aber auch die Idee der lokalen Verankerung, die für Kaufentscheide immer wichtiger werde. Genauso wie man heute Äpfel oder Salat aus der Region kaufe, würden Konsumenten künftig Strom aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft beziehen.

Konsumenten kaufen Strom über eine App

Die Besitzer von Fotovoltaikanlagen werden ihren Nachbarn jedoch nicht von Hand Stromrechnungen ausstellen. Der Stromhandel soll künftig vollautomatisch ablaufen. Damit dies gelingt, kommt moderne Technik zum Einsatz. In einer App geben die Produzenten an, zu welchen Bedingungen sie ihren Strom verkaufen wollen. Die Käufer ihrerseits legen fest, welchen Preis sie für Strom aus dem Quartier bezahlen möchten. Ein weiterer Eckpfeiler der Infrastruktur sind Smart Meter, intelligente Strom­zähler, die den Stromverbrauch und die ­Solarstromproduktion messen. Über diese Zähler stehen die Haushalte am Schwemmiweg permanent miteinander in Verbindung. Die Smart Meter wiederum kommunizieren mit einer sogenannten Blockchain, die den Stromhandel automatisiert abwickelt und in der alle Käufe und Verkäufe registriert werden. Bekannt wurde diese Technologie durch die Kryptowährung Bitcoin. Eine Blockchain kann man sich als Kassenbuch vorstellen, das nicht in einem zentralen Aktenschrank liegt, sondern in verschlüsselter Form auf vielen Computern gespeichert ist.

Quelle: Quartier-strom.ch/Grafik: sbu

Quelle: Quartier-strom.ch/Grafik: sbu

So funktioniert der Stromhandel

Dank App und intelligenter Stromzähler wird der Handel mit lokalem Solarstrom vollautomatisch über eine Blockchain abgewickelt.

Damit der lokale Stromhandel reibungslos abläuft, sind alle Beteiligten miteinander vernetzt. In einer App legen Käufer und Verkäufer fest, zu welchen Bedingungen sie Strom kaufen oder verkaufen möchten. In jedem Haushalt misst zudem ein intelligenter Stromzähler (Smart Meter) den Stromverbrauch und die Solarstromproduktion. Diese Zähler können Elektroboiler oder Ladestationen von Elektroautos steuern und so Angebot und Nachfrage regeln. Smart Meter kommunizieren ihrerseits mit einer Blockchain, die den Stromhandel automatisiert abwickelt. Alle Transaktionen werden in intelligenten Verträgen (Smart Contracts) festgehalten. Eine Blockchain kann man sich als Kassenbuch vorstellen, das nicht in einem zentralen Aktenschrank liegt, sondern in verschlüsselter Form auf vielen Computern gespeichert wird. (mge)

Noch weiss niemand, wie die Teilnehmer des lokalen Strommarkts reagieren werden. Deshalb will das Bits to Energy Lab der ETH in den kommenden Monaten das Verhalten der einzelnen Haushalte analysieren. So ist zum Beispiel unklar, wie viel die Konsumenten bereit sind, für lokalen Solarstrom zu bezahlen. «Ich glaube, dass eine Stromgemeinschaft für alle Beteiligten Vorteile bietet», sagt Sandro Schopfer. Der Forscher vermutet, dass der Strom aus der Nachbarschaft billiger sein wird als derjenige vom örtlichen Elektrizitätswerk. Grund dafür sind die tieferen Netzkosten, da der Quartierstrom nur lokal über eine geringe Distanz übertragen wird. Ebenfalls profitieren dürften die Betreiber von Solaranlagen. Denn sie können ihren überschüssigen Strom der lokalen Gemeinschaft vermutlich teurer verkaufen als dem Stromversorger.

Örtliches Kraftwerk wird zum Energie-Dienstleister

Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass sich ein örtliches Elektrizitätswerk wie das WEW an einem solchen Experiment beteiligt. Lokale Strommärkte könnten sich nämlich schon bald zu einer ernsten Konkurrenz entwickeln. Christian Dürr sieht es nüchtern: Wenn sich das Bedürfnis der Kundschaft ändere, müsse das WEW seine Rolle als Energieversorger neu definieren. «Wir könnten zu einer Art Quartierwart werden», sagt Dürr. Zu einem Dienstleister, der für die Installation und Wartung von Fotovol­taik und Wärmversorgungsanlagen verantwortlich ist. Das wäre nichts Neues. Denn bereits vor acht Jahren ist das Unternehmen in das Geschäft mit der Fotovoltaik eingestiegen.

Das WEW hat aber noch weitere Trümpfe in der Hand. Es besitzt nach wie vor die lokalen Stromleitungen zu den einzelnen Haushalten. Diese müssen unterhalten und regelmässig geprüft werden. Dazu kommt, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis Stromgemeinschaften komplett eigenständig sein werden – noch fehlen die saisonalen Speicher. Vor allem in den Wintermonaten, wenn die Fotovoltaikanlagen zu ­wenig Energie produzieren, wird das WEW als Stromlieferant weiterhin unverzichtbar bleiben.

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