Die NZZ hat sich in der Emma-Kunz-Grotte in Würenlos umgehört.
Anton C. Meier war überzeugt, dass er ohne Emma Kunz sein Leben im Rollstuhl hätte verbringen müssen. Seine oft zu Protokoll gegebene Geschichte geht so: Im Alter von sechs Jahren erkrankte er an Kinderlähmung. Sein Vater, der Besitzer der Würenloser Steinbrüche, brachte ihn zu Emma Kunz. Mit dem Pendel prophezeite die Aargauer Heilerin die Genesung des Knaben, und zwar dank der Kraft eines Steinpulvers aus der Gegend von Würenlos.
Wenig später soll Emma Kunz in einem Steinbruch der Familie Meier besonders starke energetische Schwingungen entdeckt und Umschläge aus dem fein zerriebenen Würenloser Muschelkalk empfohlen haben. Das Pulver nannte sie Aion A. Dass er dank dessen Heilkraft innert weniger Monate wieder gehen konnte, blieb für Anton C. Meier (1936–2017) zeitlebens eine nicht mehr hinterfragbare Realität. Das Wort «Wunder» nahm er allerdings nie in den Mund. Emma Kunz habe stets gesagt: «Wunder gibt es nicht, alles ist Gesetzmässigkeit.»
Am schönsten ist es, am untersten Punkt der Grotte zu stehen, im Rücken die Kälte des Steins, Baumkronen im Blick, die in die ruinenhafte Kuppel hineinzuwachsen scheinen und sanft im Wind rauschen. Wer sich angemeldet hat, kann singen, schreien oder sich hinlegen und meditieren – ohne gestört zu werden oder jemanden zu stören.
Im Dorf war die Skepsis gross. Doch der Fundort des Aion A, eine von Menschenhand geschaffene Höhle, wurde später zum «Kraftort» erklärt. Mit den berühmtesten Kraftorten der Welt – den Pyramiden in Ägypten oder Stonehenge in Grossbritannien – kann die Emma-Kunz-Grotte zwar nicht mithalten. Aber eines hat sie ihren publikumsintensiven Schwestern voraus: Im stillgelegten Steinbruch können Besucherinnen und Besucher mutterseelenallein Kräfte tanken. Eine halbe Stunde lang.
Die Online-Wartelisten sind lang. Gerade in weltpolitischen Krisen wie jetzt mit einem Krieg fast vor der Haustür steigen die Publikumszahlen. Zum Glück gibt es Sammeltermine. Die NZZ konnte einen solchen ergattern. Er fällt auf den bisher heissesten Tag des Jahres, über 35 Grad misst das Thermometer am Schatten. Am Eingang weist eine Tafel auf die historische Bedeutung des weitläufigen Geländes hin. «Im Andenken an Emma Kunz empfehlen wir diesen Ort der Kraft Ihrer besonderen Aufmerksamkeit und Sorgfalt», heisst es.
Die Formulierung stammt von Anton C. Meier. Der langjährige Hausherr hat hier vor über dreissig Jahren eine Gedenk- und Begegnungsstätte für eine Frau geschaffen, deren Werk und Persönlichkeit seine grösste Leidenschaft galt. Nach wenigen Schritten auf dem von mächtigen Bäumen gesäumten Strässchen hinauf ist sie zu sehen – auf einem grossformatigen Schwarz-Weiss-Porträt an der Wand des von Meier eingerichteten Museums. Die schöne Frau mit dem sanften Blick ist die Heilpraktikerin und Forscherin Emma Kunz (1892–1963) im Alter von zwanzig Jahren.
Im Schatten des Museums sitzen vier Frauen. Sie haben eine zweistündige Zugfahrt von Rheineck nach Würenlos hinter sich. Auch sie haben den Sammeltermin an diesem Hochsommertag erhalten und warten nun gespannt auf den Besuch der Grotte. Die Frauen wirken bodenständig. Und sie sind nicht wie viele andere Besucherinnen im Feld der Alternativmedizin oder Kunsttherapie tätig. Auf die Geschichte von Meiers Heilung reagieren sie skeptisch.
Den Ausflug hat Katharina Linsi initiiert. Sie ist Pflegefachfrau mit Schwerpunkt Palliative Care und mit 59 Jahren die Jüngste im Bunde. «Seit Jahren wollten wir die Emma-Kunz-Grotte besuchen, jetzt hat es endlich allen gepasst», sagt sie. Wie ihre 85-jährige Mutter und ihre beiden Freundinnen kennt sie Emma Kunz aus einem biografischen Roman. Er basiert auf historischen Bruchstücken und auf Gesprächen mit Zeitzeugen, die auch von hellseherischen Fähigkeiten berichten. «Sie muss eine starke Frau gewesen sein», sagt Katharina Linsi.
Emma Kunz war eine Aussenseiterin. Aufgewachsen ist sie in ärmlichen Verhältnissen im aargauischen Brittnau. Sie hatte neun Geschwister, ihre Eltern waren Handweber. Als sie 17 war, nahm sich ihr alkoholkranker Vater das Leben. Mit 18 Jahren begann sie ihre Begabungen in Telepathie und als Heilpraktikerin zu nutzen, die gesellschaftliche Ausgrenzung nahm ihren Lauf. Um der provinziellen Enge zu entkommen, folgte sie ihrer Jugendliebe, dem Sohn des Pfarrers, in die USA. Aber es gab keine gemeinsame Zukunft. Als sie zurückkehrte, wurde sie im Dorf verspottet.
In Brittnau pflegte sie einen grossen Heilpflanzengarten und erkundete auch in ihrem mit einem Mikroskop ausgestatteten Labor magnetische Strahlungen. Krankheiten verstand sie als Kräftespiel zwischen den Elementen. Deshalb pendelte sie jeweils den Gesamtzustand der Patienten aus und nicht nur das kranke Organ. Ihre Heilkünste waren den Aargauer Behörden allerdings ein Dorn im Auge. Sie seien «unziemlich, inkompetent und gefährlich», hiess es. Der Kantonsarzt schikanierte sie. Um über die Runden zu kommen, arbeitete sie als Strickerin und später als Haushälterin. Einsam und mittellos starb sie in Waldstatt. Dorthin war sie geflüchtet, weil im Kanton Appenzell Ausserrhoden Naturheilpraktikerinnen offiziell tätig sein durften.
Katharina Linsi und ihre Begleiterinnen sind von dieser Lebensgeschichte beeindruckt. Linsi sagt: «Emma Kunz hatte eine Gabe, die wir nicht nachvollziehen können und die ihr das Leben schwermachte.» Dass sich um die biografischen Wegmarken allerlei wundersame Geschichten ranken, die sich nicht verifizieren lassen, liegt auf der Hand: Emma Kunz hat kaum schriftliches Material hinterlassen.
Umso aufsehenerregender sind ihre über 400 Zeichnungen auf Millimeterpapier. Mittels ihres Pendels fand Emma Kunz zu setzende Punkte und verband diese mit Bleistift, Farbstift und Ölkreide zu geometrischen Netzwerken. Das Zeichnen soll ein Hilfsmittel gewesen sein für weltpolitische Prophezeiungen und medizinische Therapien. Sie verstand sich denn auch nicht als Künstlerin, sondern als Forscherin.
Trotzdem feiert heute die Kunstwelt ihre geheimnisvollen Pendelzeichnungen, sie reisen um die ganze Welt. Ein Teil ist im hauseigenen Museum zu sehen – nach dem Tod von Emma Kunz hatte Meier ihren gesamten Nachlass gekauft, weil sich damals niemand dafür interessierte, wie er einst der NZZ sagte. Auch ihre Arbeitsinstrumente sind im Emma-Kunz-Zentrum ausgestellt: das Pendel und Bleiplatten, die sie als Schutz gegen Gammastrahlen nutzte.
Die Hauptattraktion ist jedoch die Fundstelle des inzwischen auch in Apotheken erhältlichen Steinpulvers Aion A. Emma Kunz soll die in den Felsen geschlagene Höhle immer wieder aufgesucht haben, um sich laut Meier «wie eine Batterie aufzuladen». Bis zu 22 000 Bovis-Einheiten hat die Bauingenieurin und Kraftort-Forscherin Blanche Merz in der Grotte gemessen. Die Energiewerte sollen zu den höchsten in der Schweiz gehören. Die Bovis-Einheiten sind nach dem französischen Physiker Alfred Bovis (1871–1947) benannt. Sie lassen sich mithilfe des Pendels in Erfahrung bringen. Die Methode bleibt subjektiv.
Eine Mitarbeiterin des Emma-Kunz-Zentrums öffnet nun der Gruppe eine Gittertüre und übergibt den Besucherinnen den Schlüssel. Früher tat das der Hausherr höchstpersönlich. Anton C. Meier wohnte in einem ehemaligen Gutshaus, gleich neben dem zum Museum umfunktionierten Stall. Vor fünf Jahren ist er gestorben. Aber das ganze Gelände wirkt immer noch so, als würde er gleich selbst um die Ecke biegen. Wie vom Hausherrn gewünscht, ist sein Nachlass an eine Stiftung übergegangen. Diese führt den Betrieb in seinem Sinn und Geist weiter: ja keinen Rummel und viel gepflegte Wildnis, damit die spirituellen und heilenden Impulse spürbar bleiben. Das Aion A wird deshalb nur montags abgebaut. Dann ist das Emma-Kunz-Zentrum geschlossen.
«Halten Sie Abstand zueinander, und bringen Sie den Schlüssel in einer halben Stunde zurück», sagt die Museumsmitarbeiterin. Eine Besucherin schliesst das Tor hinter sich zu. Dann folgt sie – anweisungsgemäss in gebührender Distanz zu den anderen – dem verwunschenen Pfad hinauf zur Grotte. Er führt an einem Gedenkstein vorbei. Bewacht wird er von einer Föhre, dem Lieblingsbaum von Emma Kunz. Nach einigen weiteren Schritten öffnet sich ein imposantes Gewölbe. Dessen stürzende Linien erinnern an die Architektur von Santiago Calatrava.
Am Eingang befindet sich die «Tellurische Schwelle». Hier hat Blanche Merz 17 000 Bovis-Einheiten errechnet – bereits ab 10 000 Bovis-Einheiten sprechen Experten von einem «Kraftort». Die Frau zuvorderst stoppt. Sie hält aber nicht ehrfürchtig inne. Sie beginnt auch nicht zu singen, sondern zieht energisch die Schuhe aus. «Über die Füsse spürt man vielleicht die Kräfte besser», sagt sie und geht barfuss durch den feinen Sand in die Höhle hinein. Unzählige Schuhabdrücke erinnern daran, dass die Grotte ein Publikumsmagnet ist.
Obwohl sie gerade eine Fussoperation hinter sich hat, nimmt eine weitere Frau nach anfänglichem Zögern ihre Sandalen in die Hand. «Vielleicht tut ja der Sand meinem Fuss gut», meint sie. Nach der brennenden Sonne draussen ist es im mächtigen Felsengewölbe angenehm kühl.
Mit 10 000 Bovis-Einheiten bewegen sich hier die Strahlungen im unspektakulären Bereich. Am stärksten sollen sie an der hintersten Wand der Grotte sein.
Auf dem von Blanche Merz entwickelten Plan betragen sie dort 22 000 Bovis-Einheiten. Die vor zwanzig Jahren verstorbene Ingenieurin nennt diese Zone «mental-geistige Sphäre für spirituelle Impulse». Die Besucherin Lotti Linsi geht schnurstracks darauf zu, legt kurz die Hände auf die angeblich strahlende Wand. Dann setzt sich die 85-Jährige in der Mitte der Grotte auf einen Stein. Laut Meier war dies der Lieblingsplatz von Emma Kunz. Lotti Linsi interessiert das nicht. Auch den Grottenplan hat sie wie ihre Begleiterinnen bewusst ignoriert.
Das Quartett aus Rheineck will wissen, ob es die Strahlungen «intuitiv und ohne Kopf» spürt. Die Frauen wandeln schweigend und konzentriert durch den Raum. An bestimmten Stellen verharren sie mit geschlossenen Augen. Die vorbeiziehenden Flugzeuge scheinen sie nicht aus ihrer Versunkenheit aufzuschrecken. Beten sie?
«Nein», sagt Katharina Linsi. «Aber ich fühlte mich wie in einer Kathedrale. Ich dachte: Hier möchte ich verweilen, hier möchte ich ganz lange bleiben.» Wir stehen wieder am Gittertor, erstaunt darüber, wie unterschiedlich die Reaktionen sind. Sie sei unruhig geworden, sagt Katharina Linsis Mutter. «Ich schaute auf die Uhr und war froh, dass die halbe Stunde fast um war und ich die Grotte wieder verlassen musste.»
Für Katharina Linsi ist das Unwohlsein ihrer Mutter eine Reaktion auf die geballte Energie an diesem Ort. Sie selber würde am liebsten schon am nächsten Tag wiederkommen. Auch ihre Freundin Katrin Python empfand eine «enorme Ruhe», wie sie sagt. Trotzdem zweifelt sie: «Würden wir auch etwas spüren, wenn wir nicht wüssten, dass die Grotte ein Kraftort ist?», fragt sie.
Gerda Huber, die andere Freundin, nimmt den Faden auf: «Wenn man weiss, dass etwas stärkend wirkt, dann passiert etwas. Solche Offenheit ist eine Typensache.» Wie sie nun erzählt, ist ihr die bläuliche Farbe ihres operierten Fusses aufgefallen, als sie am Grotteneingang die Schuhe auszog. Nachdem sie ihre blossen Füsse eine Weile im Gesteinsmehl bewegt habe, sei die Farbe des operierten Fusses plötzlich wieder völlig normal gewesen.
Beim Museum wartet bereits die nächste Gruppe auf den Einlass in die Felshöhle. Diesmal sind zwei Männer dabei. Sie sind mit ihren Ehefrauen gekommen, die beide als Masseurinnen arbeiten. Die befreundeten Paare sind nicht das erste Mal hier. «Natürlich spüren auch wir die Schwingungen – lange durften wir Männer das nicht sagen. Zum Glück sind diese Zeiten vorbei», sagt der eine, der früher als Vermesser tätig war. Einmal habe er sogar Kopfweh bekommen.
Das Thema «Kraftort» scheint trotzdem hauptsächlich Frauen zu interessieren. Sie machen den Hauptteil der 26 Personen aus, die an diesem Sommernachmittag in der Grotte Energie tanken oder sich «entschleunigen» wollen, wie es eine Kunstschaffende formuliert. Sie kommt wie fast alle Besucherinnen und Besucher regelmässig hierher. Eine andere Frau, die mit ihren beiden Kindern ab und zu einen Ausflug ins Emma-Kunz-Zentrum unternimmt, sagt: «Meine Kinder freuen sich jeweils sehr und spüren die Energie auch.»
«Aion» bedeutet auf Griechisch «Ewigkeit». An der Kasse ist das von Swissmedic zugelassene Naturheilprodukt erhältlich. Das Stammpublikum hat in der Regel das Steinpulver bereits zu Hause im Apothekerschrank vorrätig. Auf der Packungsbeilage wird das mineralhaltige Gesteinsmehl unter anderem empfohlen bei rheumatischen Erkrankungen, Nervenschmerzen, Sportverletzungen wie Verstauchungen, Quetschungen oder Sehnenentzündungen und Insektenstichen.
Das Steinpulver wird aber gegen alles Mögliche eingesetzt: gegen die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zum Beispiel. So sollen Kinder, die ihre nervösen Hände in eine mit Wasser aufbereitete Aion-Paste legen, ruhiger werden. Bei Atemerkrankungen und Lungenbeschwerden soll das Würenloser Gestein ebenfalls eine heilende Wirkung entfalten.
Und manchmal setzen sich Menschen mit einem Tumor für eine halbe Stunde in die Grotte, um vor oder nach einer Chemotherapie ihre Widerstandskräfte zu stärken. Das Museumspersonal warnt allerdings entschieden vor falschen Hoffnungen.
Auch für das Quartett aus Rheineck ist klar: Wer im Rollstuhl in die Grotte fährt, wird nicht zu Fuss wieder hinausgehen. Zwei wollen wiederkommen, zwei eher nicht.
Das Emma-Kunz-Zentrum in Würenlos ist vom Dienstag bis Sonntag jeweils von 12 bis 17 Uhr geöffnet. Für den Besuch der Grotte braucht es eine Anmeldung.